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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Westbevölkerung gibt’s ja Leute, die dürftig gekleidet sind. Einer sagte:«An den Turnschuhen erkennt man sie.»Auf dem Hauptmarkt, weihnachtsmäßig, eine Glühweinbude, und davor standen sie in Crowds, immer fünf, sechs zusammen - das ist wohl ihr Treffpunkt -, sie machten aber gar keinen gedrückten Eindruck. Trabis waren nicht zu erblicken. - Ich kaufte zwei gute Scheren in einem Spezialgeschäft. Endlich! Immer macht man den Fehler und kauft zu billig. Hier mußte ich für zwei Scheren 139 DM zahlen. - Die feine Schere, die ich kaufte, wird gut gegen meine einwachsenden Wimpern sein. Nach Tisch erquickend geschlafen, konnte kaum wieder wach werden. Aber: entzündete Augenlider, was auf die Verwendung dioxinhaltiger Farben o. ä. im Hotel schließen läßt. Meistens liegt es am Teppichkleber.
    Den Dom angesehen, der Raum wirkt angenehm, groß, großzügig, leider entstellt durch Zutaten und Spuren der Französischen Revolution, alle Kleinaltäre weg. Hochaltar sympathischkitschig
mit erleuchteten Kristallsternen. Auch der Heilige Rock ist zu sehen, wenn auch zugedeckt, mit einem roten Teppich. - Die sogenannte Basilika war geschlossen, wie immer (evangelisch!), die hat tatsächlich nur geöffnet von 11 bis 12 und von 15 bis 16 Uhr. Ich erinnere mich an 1957, an unsere Radtour. Von draußen nicht gerade schön. So fabrikartig - oder Bahnhof. Ratsherrenspieß / Kalbsteak«Hawaii»/ Filetspitzen in Kräutersahne / Ratsherrenpfanne /Senatorenpfanne.
    In einem Café gesessen, Himbeertorte mit Schlagsahne, und die beiden Serviererinnen beobachtet, sehr angenehme Erscheinungen. - Eine lustige kleine Kellnerin lachte mich an. Ich sag’:«Na, Sie sind so lustig? Haben Sie Geburtstag?»-«Nein, ich bin öfter gut gelaunt. Sie sind doch Herr Kempowski? Sie haben mal in Karlsruhe gelesen, im Gymnasium …»
    Telefon, Renate hat einen Preis bekommen in Krakau.
    Eine Stadt voller Spielhallen. Sie klagen, daß der CDU-Stadtrat es zugelassen hat, daß die ganze Stadt verhunzt wurde.
    Lesung in Konz. - Der Stadtdirektor macht darauf aufmerksam, daß Fledermausausstellung …
    In der ČSSR haben sie’s nun geschafft. Auch sie sind das Pack los. Die Kommunisten sind erledigt! Und das alles in so kurzer Zeit. Nur, weil die Ungarn ihren Zaun ein Stückchen geöffnet haben. Kleine Ursachen, große Wirkungen, das kann man wohl sagen.
    In der DDR bewegt sich im Augenblick nichts. Die«Künstler»haben beschlossen, es nochmals - allein - ohne die BRD zu versuchen und zwar mit dem Sozialismus. Sie wollen sich nicht«schlucken»lassen. Na, das gibt ein Hinsiechen auf Raten. Wer da wohl die Verantwortung übernimmt. Später werden sie dann sagen: Wir haben uns eben geirrt.
    Raddatz hat sich inzwischen, wie er im TV sagt, auch von der Linken abgewandt.
    Lesung: Die Leute nickten mir ermunternd zu, ich soll so weitermachen und: Nur keine Angst! Ganz tutig. Lieb. Auch einige Schüler darunter, die sich offensichtlich sehr amüsierten. Hinterher kamen sie und sagten, sie hätten so eine Art Kempowski-
    Fan-Club. Ein dunkles Mädchen in der ersten Reihe gab abfällige Bemerkungen von sich, zu ihrem Nebenmann, sie klatschte ostentativ nicht. Kann ich verstehen. Nichts langweiliger als das plumpe Lob. Der verächtlichen Dame zeigen, daß man das genießt und ihr dadurch die Nase dreht.
    Archipel Gulag II. Dieses unsinnige Gerede, ob man die Gulag-Sachen mit den Nazi-Angelegenheiten gleichsetzen wollte. Vergleichen kann man sie.«Wir haben niemanden vergast, weil wir kein Gas hatten», sagt Solschenizyn, der die Anzahl der SU-Toten mit 66 Mio. angibt.

Trier
Do 30. November 1989
    Bild: Der COOP-Sumpf / Der feine Herr Lappas verhaftet und 4 andere Bosse
    ND: Frankreich will für die DDR ein echter Partner sein / Einheit der Partei bewahren
     
    17 Uhr. - Den ganzen Tag bin ich in Trier umhergelaufen, wie gestern. Ein Herr Kaun lud mich zum Essen ein und führte mich durch die Stadt und zeigte mir lauschige Pfarrgärten und Mauergäßchen. Er erklärte mir auch die Ausgrabungen auf dem Viehmarkt, die offenbar nicht so sensationell sind, wie man denkt. Zur Römerzeit habe hier noch mediterranes Klima geherrscht, sagt er. Überdachte Laubengänge usw. Die alten Römer hätten sorgfältiger gebaut, als die Leute im Mittelalter. Er zeigte mir das. Der gute Mann ging in Hemdsärmeln, und dabei ist es doch Ende November!?«In Trier läuten die Glocken, wenn es nicht regnet», wird gesagt. Oder:«Entweder regnet’s, oder es läuten die Glocken».

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