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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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SED wurde aus der Verfassung gestrichen
     
    Salzstreuer in Form eines Bleistiftes.
    Die Römer haben solide gebaut, die Karthäuser nahmen jeden Dreck. Das war an den Überresten deutlich zu erkennen (Trier). TV: Jauchzende Mädchen: Nein, eine Wiedervereinigung wollen sie natürlich nicht. Daß Honecker elf Jahre gesessen hat - also, das reißt ihn raus. - Schlagartig keine DKP-Plakate mehr in Oldenburg, diese Riesendinger in Vierfarb-Druck. Alles wie leergefegt.
    «Haben Sie schon einen Verleger?»werde ich gefragt.
    Die Frau von Friedhelm Ost war da, hinterher gab sie allerlei Interna preis über das System in den Funkhäusern. Verfolgungsjagd der Presse. Boykott. Glaub’ ich aufs Wort. Davon könnte ich auch was erzählen. Am besten ist es, man behält das für sich.
    Ich kann es noch immer nicht fassen, daß sie da drüben die Wiedervereinigung nicht wollen. Ist das der Armenstolz? Oder ist es wieder so, daß ein Meinungsschleier über allem liegt? Der Steinmetz jedenfalls, der neulich kam und unsern Grabstein brachte, tippte sich an den Kopf.
    Im TV heute früh ein Ratespiel: Ob es stimmt, daß in Sao Paulo jeden Tag 4000 neue Straßen entstehen? - Ja! -«Sie haben gewonnen! Richtig!»
    Kohl habe Wäschekörbe voll Post bekommen nach der Pfeifattacke der Autonomen in Berlin.
    Nein, ich werde mich nicht auf Schultern nach Rostock tragen lassen. Biermann schlug sich mit einer Rose gegen die Stirn. Er spielte die Fassungslosigkeit, die ihn offensichtlich beherrschte. 100 Millionen Mark sollen sie ins Ausland transferiert haben, auf Nummernkonten. Das erscheint mir wenig. Marcos hat da ganz anders zugelangt.
    Köln. Kopelew steht auf dem Bahnsteig. Hoffentlich setzt er
sich nicht zu mir. Er ist mit seiner krebskranken Frau noch in der Gegend herumgereist, sie habe bewußt von allem Abschied genommen. Als ich ihn als«Kameraden»begrüßte, sagte er:«Wieso»? -«Ich hatte auch das Viertelmaß bekommen.»-
    «Aber das ist doch ganz was anderes, das ist doch mit mir nicht zu vergleichen …»
    Heute Nachmittag muß ich noch nach Plön. Dann ist Schluß. Die Blüm-Einladung hat sich von selbst erledigt.
     
    11 Uhr. - Eben Bavendamm getroffen. Wieder sehr gelacht.«Bis 1992 müssen wir die Wiedervereinigung gewuppt haben, sonst marschieren wir in die verkehrte Richtung», habe ihm gestern einer auf einer Tagung gesagt. - Ein sehr angenehmer Mensch. Ob das eine irische Wolfsmilch sei, hat er gefragt, als er zum ersten Mal unseren Corgy sah.
    Es ist so etwas wie Scham, die ich empfinde, wenn ich die Entwicklung nach dem 9.11. ansehe. Und jetzt erst kapiere ich, was deutsche Innerlichkeit bedeutet. Wie recht hat das Ausland, sich vor uns zu fürchten. Leider fehlt es mir an Wissen und an der nötigen Aggressivität. Sonst würde ich mich einmischen. Nicht nur die Intellektuellen sind deutsch-innerlich (Grass! Sogar er!), sondern das Nachplapper-Volk, das die Gebetsmühlen wieder zu drehen beginnt. Es ist widerlich. Scham und mehr noch Trauer.«Wiedervereinigung? Wieso denn das?»sagen sie.
     
    Nartum, 23 Uhr. - Am Nachmittag raste ich noch nach Plön, wo im Kreistagsgebäude eine Lesung angesetzt war, nicht etwa in dem schönen Schloß. Es kam zu freundlichen Verbrüderungen. Ich habe offen meine Meinung gesagt. Vorn in der ersten Reihe saß ein«DDR-Bürger»(er wehrte sich gegen diese Bezeichnung). Er sei Deutscher, sagte er. - Was ich heute abend ins Tagebuch schreiben werde, wollte eine junge Frau wissen. Ob wir ein Bier zusammen trinken, fragte ich einen bekannten deutschen Schriftsteller, den ich auf der Straße traf. Nein, danke. Mit so einem wie mir setzt man sich nicht an einen Tisch.
    Die beiden Groß-Präsidenten im Sturm von Malta, ein winziges
Motorboot bringt Bush zu Gorbatschows Schiff. Das hätten sie doch eigentlich auch bequemer haben können.
    Krenz brüllt in seine SED-Kohorten hinein.
    Biermann im Radio erzählt Idioten-Stories. Das Niveau hat die Nullmarke unterschritten.
    Auf den Philippinen Geschieße, Panzer, in El Salvador desgleichen. Es ist, als ob alles auf einen diffusen Höhepunkt zutreibt,«die Welt ist aus den Fugen», alles hat sich geändert.

Nartum
So 3. Dezember 1989, 1. Advent
    Welt am Sonntag: FDP gegen Kohls 10-Punkte-Plan für Deutschland /Schweres Zerwürfnis im Regierungslager / CDU-Rühe über Lambsdorffs Angriff: Abwegig
    Sonntag: Kein Fall ist erledigt. Gespräch mit dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur des«Sonntag», Gustav Just
     
    Das neue Kirchenjahr

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