Alkor - Tagebuch 1989
Münzfunde im ausgetrockneten Bett der Mosel, Zigarrenkisten voll, vor zehn Jahren. - Die akademische Buchhandlung hat kein einziges Buch von mir vorrätig. Im Stadtarchiv Fehlanzeige wegen Tagebüchern. Der Archivdirektor fertigte mich auf dem Flur ab, obwohl ich angemeldet war.
Nach der Lesung gestern eine DDR-Familie, mit der ich noch ein wenig zusammensaß. Obwohl sie große Schwierigkeiten hatten und haben, würden sie nie zurückgehen wollen, sagen sie.
Herrhausen ermordet.
Eine Frau sagte, sie habe ein Buch von mir gelesen, als sie schwanger war, sie habe so lachen müssen, daß ihr Mann gesagt hat:«Laß das, sonst verlierst du das Kind.»
In der Akademischen Buchhandlung für 38 Mark«Treverensia»gekauft.
Lesung in Daun (Koblenz).
Dezember 1989
Trier
Fr 1. Dezember 1989
Bild: Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank, von RAF ermordet / Warum?
ND: Rund 100 000 Übersiedler in der BRD arbeitslos / ČSSR-Aktion 1968 aus heutiger Sicht nicht mehr zu akzeptieren
Lesung in Bad Honnef. Es war hübsch voll. Ich benutzte meinen Auftritt zur Werbung für das«Echolot», vielleicht schickt mir ja der eine oder andere was.
Hildegard meint, die RAF hätte mit dem Attentat wohl ihr letztes Geld verpulvern wollen, denn die Unterstützungen aus dem Osten blieben jetzt bestimmt aus.
Die drei DDR-Besucher hatten wundervolle Fahrräder, das sah irgendwie sippenartig aus, als sie davonfuhren. Die Kinder seien so schüchtern, sagt die Mutter, weil ihnen die Menschen hier als Übermenschen geschildert worden seien. - Ihre Sachen bekämen sie jetzt erst, nach sieben Monaten Warten. Beim Grenzübergang hätten sie immer gedacht: Wann kommt denn jetzt die Grenze? Und dann wären sie schon hier gewesen, alles ganz leicht, und zweieinhalb Jahre drauf gewartet. Gestern sind wieder 2500 gekommen. Das hängt mit dem Sozialismus zusammen, den die Leute drüben jetzt noch einmal ausprobieren wollen, das gibt den«Ausreisern»erst den richtigen Kick. Es ist, als ob sie verrückt geworden sind. Naja: Deutsche.
«Trotz überwältigender Kenntnis der trostlosen Lage und ihrer kaum minder trostlosen Ursache wird die längst mumifizierte Utopie beschworen. Ob Christa Wolf auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin oder der aus seiner Versenkung auferstandene Rudolf Bahro im Fernsehen - entgegen ihrer Erfahrung, auch ihrer
eigenen, meinen sie ernsthaft, nun sei der Zeitpunkt gekommen, den«demokratischen Sozialismus»einzuläuten.«Blindlings fallen die großen Worte, denen man abgeschworen hatte, auf die Zuhörer nieder», schreibt Kunert. Er meint, diese Bewegung könne«nichts anderes werden als ein Feierabend-Club oder ein Traditionsverein, in welchem man gemeinsam das Kommunistische Manifest liest, um sich dem Aufwachen zu entziehen».
Die politischen Häftlinge drüben sind noch immer nicht entlassen.
Ob es so etwas wie«Volks-Schizophrenie»gibt?
Biermann: Ist es nicht irgendwie tragisch, sein ganzes Leben mit einer Klampfe verbringen zu müssen? Das ist doch eigentlich nichts Ernsthaftes. Die Ballade auf Krenz, das war mal was Gutes, gegenüber den allgemeinen Unverbindlichkeiten. Aber doch auch sehr primitiv. Ein Knüller für die Massen. Ich habe Angst vor so was. Eine Aufhetzung, die zu nichts führt. Und wie sie diesem Infantil applaudieren!
Am 1. Dezember 1989 sang ich in Leipzig in der eiskalten Messehalle II zum ersten Male nach langen Jahren in der DDR. Honecker war grad zurückgetreten worden, und das ewig lachende Gebiß wurde sein Nachfolger. Krenz versuchte als deutscher Gorbatschow, die Kurve zu kriegen.
Ich bin mindestens so rachsüchtig wie der getaufte Jude Heinrich Heine. Aber an diesem Abend in Leipzig sang ich für Honecker eine fast christliche, eine versöhnliche Strophe in der Ballade von den verdorbenen Greisen …
Daß Honecker bei Hitler im Zuchthaus gesessen hat, wird ihm hoch angerechnet. Das wiege allerhand auf, wird gesagt. Dabei hat das eine mit dem anderen doch gar nichts zu tun? Im übrigen wird allerhand gemunkelt über seine Zeit in Brandenburg. Das anachronistische Gitarrengeplempe.
Brief aus Mechelen/Belgien: Ein Herr beschwert sich, daß ich in T/W Timmermans einen Holländer genannt habe und Beethoven«aus Spaß»auch. Timmermans sei Belgier und Beethovens Ahnen stammten ebenfalls aus Belgien , nicht aus Holland.«Das wenige, das wir haben, sollten Sie uns lassen.»
Im Zug nach Bremen / Nartum
Sa 2. Dezember 1989
Bild: Herrhausen / Gesucht: die«Ratte»
ND: Führungsrolle der
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