Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Chemnitz heißen. - Das tut gut. Gestern hatte ich eine Lesung in Neuwulmstorf bei Hamburg. Schlecht besucht. Es war die letzte in diesem Jahr.
    Eine Dame schreibt, auch sie habe Krieg und Nachkriegszeit in Dur und Moll miterlebt. Sie freut sich ungemein über die jüngsten politischen Entwicklungen und wünscht sich das zarte Pflänzchen, das da jetzt sprießt, behütet und gepflegt.
    In Koeppens«Amerikafahrt»wimmelt es von«Negern». Wird dieses Buch eines Tages verboten werden? Oder gereinigt? Auch T. Mann spricht häufig von Negern. Das Afrika-Tagebuch von Leiris. Kann ja sein, daß es keine Menschenrassen gibt, aber irgendwie unterscheiden sich die Bevölkerungsgruppen doch voneinander. Nicht wahr? Oder irre ich?
    Von den Verheerungen der französischen Besatzungsmacht schreibt er:
    21. September 1931: Gegen Abend hören wir von dem französischen Grundschullehrer, daß die Moschee das Werk eines Europäers ist, des ehemaligen Verwaltungschefs. Um seine Pläne zur Ausführung zu bringen, hat er die alte Moschee abreißen lassen. Den Eingeborenen ist das neue Gebäude derart zuwider, daß man Gefängnisstrafen verhängen muß, ehe sie sich dazu bequemen, sie auszufegen. Bei bestimmten Festen werden die Gebete an der Stelle gesprochen, wo der alte Bau stand.

    Mir scheint, so verschieden von uns sind sie doch nicht, diese Weißen schwarzer Hautfarbe …
    Hildegard heute: Sie kann sich nicht vorstellen, daß es zwei Menschen auf der Welt gibt, die verschiedener sind wie wir beide. Na, ich glaube: jeder.

Nartum
Sa 16. Dezember 1989
    Bild: Sacharow tot nach Streit mit Gorbatschow / Deutschland: Moskau zieht alle Truppen ab
    ND: Außerordentlicher SED-Parteitag setzt heute seine Beratung fort/Dringlicher Appell zur Bewahrung der Freundschaft mit dem polnischen Volk/Letztes Mal:«Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands»
     
    Ich las heute, daß die Bundesrepublik 1972 an Polen 100 Mio. Mark überwiesen hat für die KZ-Opfer. Erst 1987 sei den Opfern etwas von dem Geld ausgezahlt worden. Es ist mir ein Rätsel, wieso man das so nebenbei erfährt. Das müßte man diesen Leuten doch stets und ständig unter die Nase reiben! Versikkerndes Geld. Wann wohl die Geschichte der Entwicklungshilfe geschrieben wird. Dreistellige Milliardenbeträge wurden da vergeudet. Die Sache mit dem goldenen Bett. - Gehlen:«Geophantastischer Wahnsinn.»- Ulla Hahn hat sich gegen den Sozialismus erklärt.«Wer träumt, schläft!»sagt sie.
    Die Reduzierung der Bundeswehr um 80 000 Mann wird propagandistisch nicht genutzt, wie alles, was von der jetzigen Regierung an Richtigem durchgesetzt wird. Eigentlich sympathisch. Weiterhin kommen täglich 1500 Deutsche von drüben. Insgesamt seit 1. Januar 1989 325 000. In Nartum sieht man keine Ossis. Umsiedler ja, und auch ein albanisches Ehepaar, aufrechte Patrioten, wie ich vermute. Der Mann ist Boxer. Die drei Kinder haben hübsche Namen, eine Tochter heißt Ermel. Ein vietnamesisches Ehepaar wurde hier auch schon einmal gesichtet, sie
gingen an unserm Haus vorbei, und ich grüßte sie freundlich. Wahrscheinlich auch Leute, die ihres Glaubens wegen verfolgt wurden und denen man tatkräftig helfen muß.
    SU hat bisher jährlich 5 Milliarden $ an Kuba gezahlt, das höre nun auf, heißt es.
    Gestern war ein Jungautor da, erzählte, daß in Berlin, in der Nähe der Mauer, ständig ein sonderbares Picken zu hören sei. Das rühre von den vielen Leuten her, die mit kleinen Hämmern an dem Beton herumklopfen, um Souvenirs zu gewinnen. Die Mauer verschwinde auf diese Weise allmählich, sie brauche nicht abgerissen zu werden. - Der Ausdruck«Mauerspecht».
    Der größte Schock der DDR-Bevölkerung sei die Mauer gewesen, die Menschen, die das Dings ja nie aus der Nähe zu sehen kriegten, hätten überhaupt keine Ahnung davon gehabt, wie perfekt sie eingesperrt gewesen seien. Der Zaun sei undurchlässiger gewesen als in den KZs. Die Wut komme erst jetzt hoch. Auch die freundliche Begrüßung hier durch den Klassenfeind sei bestürzend gewesen. Er hat mir Ratschläge gegeben für meinen Besuch in Rostock und für die Lesung. Ich solle den Leuten was auf den Hut geben, bloß nicht mit«Verständnis»kommen, die hätten sich alles selbst eingebrockt. - Die Lesung dort ist nun auf den 30. Januar festgelegt worden. Beginne schon, mich zu präparieren. Die Telefongespräche mit Hinstorff sind abenteuerlich, endloses Tüten oder gleich«besetzt». Als ob man nach Afrika in den Busch

Weitere Kostenlose Bücher