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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Westphalen.
    Ganz konsequent für verschämte Dummheit ist es, daß ich jetzt in diesen Wochen von niemandem interviewt oder zitiert worden bin. Jahrelang wurde ich gemieden, weil ich die Wahrheit sagte, nun, weil ich sie gesagt habe. Vielleicht kommen sie auch bloß nicht auf mich. Und: Was sollte ich denn auch sagen? Matschwetter, alles taut. Im Haus ist’s schön warm.
    Capote:«Die Musen sprechen». Sein Bericht über eine Porgy + Bess-Tournee in Rußland. Stellenweise albern.
    Bratwurst.

Nartum
Mi 13. Dezember 1989
    Bild: Wiedervereinigung/Jetzt wissen wir, wer unsere Freunde sind
    ND: Gysi: Unsere Partei will politische Heimat aller Werktätigen sein
     
    8 Uhr: - Es stürmt. Der Regen klatscht gegen das Fenster. Und ich hab’ mal wieder Leibschneiden.
    Am Nachmittag kam ein Fotograf aus Frankfurt, der mich sehr püttjerig ablichtete. Er war in Berlin dabei, am 9. November: 6000 Fotografen hätten da ihre Bilder geschossen. Die Westdeutschen seien euphorisch gewesen, auch die Ostdeutschen voll Freude. TV: Weizsäcker sprach von«Tuchfühlung». - Auch eine Reportage über das Gefängnis Bautzen II wurde gesendet, übrigens ohne, daß Bautzen I erwähnt worden wäre, in dem es vor einigen Tagen einen Aufstand gegeben haben soll. Das Stasi-Gefängnis in Berlin: tierisch. Wohin sich wohl die Aufseher verkrochen haben. In Wernigerode wurden Menschen gezeigt, die für die deutsche Einheit demonstrieren, und andere, die ein Transparent hochhalten:«Großdeutschland, nein danke». Wer spricht denn von Großdeutschland? Aber es kann schon sein, daß wir eines Tages mit Great Britain und der Grande Nation gleichziehen, wirtschaftlich ist das ja jetzt schon der Fall.
    Heym hat vor der IG Metall eine Rede gehalten, worin der schöne Satz vorkommt:«Seitdem die Grenzen offen sind, gibt es Waffen bei uns.»Er vergleicht die jetzige Situation gar mit 1933. Von den Waffenfunden in Kavelsdorf hat er wohl noch nichts gehört. Nun ja, er kann einen Greisenbonus beanspruchen. Im übrigen hat er auch seine Verdienste.
    In der FAZ ein ziemlich schrecklicher Bericht von dem eingesperrten Dinescu über Rumänien. - Horst-Eberhard Richter hat die Frage gestellt, ob es denn bei uns anders sei? Solche Äußerungen verraten die Unfähigkeit, Leiden von Menschen überhaupt noch wahrzunehmen. In Rumänien, so war zu hören, bekommen Leute über 60 keine Medikamente mehr!

    Für H. E. Richter müßte man einen speziellen Paragraphen im Strafgesetzbuch einführen. Wer trotz umfangreicher Bildung Beklopptheiten verbreitet, wird mit drei Monaten Bautzen bestraft. Aber nein, lieber nicht, sonst schreiben all diese Leute danach Leidensbücher.
    Die«Gould»berg-Variationen, beide Fassungen gegeneinandergehalten. Wird man bald verrückt. Anrührend, wenn er - fast unhörbar - dazu singt.
    Der heiligen Lucia sollte heute gedacht werden.
    Ein Ochsengespann und »tausend Männer« sind nicht imstande, die Gefesselte von der Stelle zu bewegen. Weder ein Zauberer noch über sie gegossenes siedendes Öl können ihr etwas anhaben. Da stößt man ihr ein Schwert durch die Kehle: Sie stirbt erst (im Jahre 310), als ein Priester ihr die Hostie gereicht hat.

Nartum
Do 14. Dezember 1989
    Bild: Selbstmordversuch in der weißen Villa am Rupenhorn / Bubi Scholz fast verblutet
    ND: Probleme legen uns nicht aufs Kreuz - wir arbeiten! / Beziehungen DDR-Frankreich werden große Zukunft haben
     
    T: Ich habe einen neuen Flügel gekauft, den längsten den es gibt, wie ein Mercedes 600 steht er in unserm Eßzimmer, absolut überdimensioniert. So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Ich frage den Verkäufer, den Händler, ob ich ihn nicht umtauschen kann, eine Nummer kleiner? Nein, das geht nicht.
     
    Eine Dame dankt für meinen Weihnachtsartikel in der«Hörzu»:«Neulich im Fernsehen habe ich Sie neben Pfarrer Gauck und Willy Brandt vermißt.»
    Ja, unsereiner steht hier jetzt ein bißchen blöd in der Gegend rum. - Hat da einer gerufen? Nein, es hat niemand gerufen. Lesung in Neuwulmstorf.

Nartum
Fr 15. Dezember 1989
    Bild: 2. Selbstmordversuch, Pulsadern aufgeschnitten/Muß Bubi Scholz jetzt in die Anstalt?
    ND: Wirtschaftskooperation DDR-BRD/Gute Voraussetzungen, aber keine Wunder erwarten
     
    Wetter miserabel.
    Sacharow ist gestorben. Uns ist noch in Erinnerung, wie Gorbatschow ihm damals das Wort abschnitt, als er auf Menschenrechtsverletzungen hinwies, in der Duma oder wo. Saß so halb über ihm und zeigte ihm den Vogel.
    Karl-Marx-Stadt soll wieder

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