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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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DKP in der Bundesrepublik sich offenbar auflöst, ohne die 70 Millionen Mark (pro Jahr!) von drüben ist nichts mehr zu machen. - Linientreue werden ausgelacht von Leuten, die gestern auch hübsch linientreu waren. Giordano will, daß alle hart bestraft werden. Wo will er da anfangen? Der Spuk ist verflogen, schaffen wir keine Märtyrer. Unsereiner hat als Greis mit der ganzen Sache kaum mehr etwas zu tun.
    Mit den Jahren bin ich einsichtiger geworden, ja milder. Das wird aber nicht dazu führen, daß ich mich bei ihnen für Bautzen bedanke. Aber, mal ehrlich, was wäre aus mir ohne diese grobe Zurechtweisung geworden? Daß man mich ganz klein machte, ermöglichte es mir zu wachsen.
    Adventssingen in guter Besetzung. Wir saßen einträchtig im Turm und lauschten der Grundgewalt des Basses. Die Soprane schrien wie immer - wer will es ihnen verdenken?«Sicut Cervus desiderat …»Gesänge, wie man sie nirgends mehr zu hören kriegt, auch nicht in der Katholischen Kirche, nur noch in Kulturfilmen, sobald eine romanische Kirche gezeigt wird, und auch dort nur ein paar verschleierte Takte lang.
    Filme über buddhistische Klöster und deren Riten werden uns eingehend vorgeführt, aber von unseren abendländischen Überlieferungen will niemand mehr etwas wissen. Das wird sich rächen.
    Das sogenannte Brauchtum, das aus der Vergangenheit herkommend bis zu uns eine Verbindung schafft. Hier bei uns gibt es nur noch das Osterfeuer, was dazu dient, Abfall zu verbrennen oder zu«entsorgen», wie es jetzt heißt.
    Nach dem Singen spielten Dörries Kinder uns was vor. Wenn Kinder ernsthaft musizieren, dann hat das immer etwas Anrührendes. Und hier wurden nicht Flohwalzer oder israelische Friedenslieder geklimpert. - Für mich hatte es leider den Wermutstropfen, daß ich einiges davon aus meiner Klavierstunde kannte. Ich führte das staunende Publikum in mein«Echolot»ein. Es kam mir sehr großartig vor.
    Morgen tagt zum ersten Mal wieder der Alliierte Kontrollrat.

    Im Fernsehen werden wir auf die Regenwaldkatastrophe aufmerksam gemacht. Das sollten sie lieber den Leuten da drüben zeigen. Was können wir dagegen unternehmen?

Nartum
Mo 11. Dezember 1989
    Bild: Berlin wieder Hauptstadt! / Vergeßt das Bauen in Bonn
    ND: Parteivorsitzender Gysi: Hart arbeiten für die Rettung des Landes und unserer Partei
     
    Bundesarchiv Koblenz schickte Rechnung für Fotokopien: 936 Stück für 468 Mark
    Ein Herr brachte zwei Kisten mit dem Nachlaß einer Hobby-Dichterin.
    Im Expeditionstagebuch von Leiris gelesen. Bach, Trio-Son. 4 + 5.

Nartum
Di 12. Dezember 1989
    Bild: Botschafter der 4 Mächte trafen sich in Berlin (West) / DDR 14.21 Uhr, Grenzübergang Stapelburg/Der erste Wachtturm fällt
    ND: Bitterfelder machen Dampf, damit die Produktion läuft
     
    Hunderte von Krähen hinterm Haus, wahrscheinlich über tausend.«Die schwarzen Vögel»hieß mein erstes Opus in Bautzen, 1952. Ich versteckte es hinter einem Mauervorsprung. Ob es noch da ist?
    Angstgefühle wegen der ungeklärten Kreienhoop-Großlösung. Der nächste Termin in Hannover ist auf Mitte Januar verlegt worden. Verkaufen? Stiften? Sehr groß scheint das Interesse des Herren dort nicht zu sein. Frau Dingwort-Nussek hätte sich anders, feuriger eingesetzt. Aber vielleicht wäre sie einem dann später sehr auf den Nerv gegangen.

    Dann die politische Lage. Der Euphorie folgt nun der Katzenjammer. Es zeigt sich mal wieder, wie berechtigt es ist, den Franzosen gegenüber Vorbehalte zu haben. Sie trauen uns nicht, weil sie an ihre eigenen Sünden denken.
    Dann das«Echolot», diese Riesen-Arbeit, und auch hier ist momentan keine Hilfe in Sicht. - Der«Sirius»müßte noch viel dichter (und andererseits offener!) sein. Kann ich ein Tagebuch im Jahre des Heils 1989 redigieren, ohne auf die Gegenwart einzugehen? Erwartet man das nicht von mir?
    Die Angst auch vor dem«Deutschen». Dieses finstere, wirre Gottesvolk.
    Ich wundere mich über das Erstaunen der Leute, die erst jetzt mitkriegen, was die SED für ein Verein war. Die Naivität der Presse hier ist beispiellos. Bölling, Gaus, all’ diese Feinschmekker und Herrenreiter. Wie Weizsäcker damals mit dem Hosenträger-Honecker im Garten der Villa Hammerschmidt Staatsgespräche führte! Gingen über den Rasen und zeigten Verständnis füreinander vor den Kameras der Welt.
    «Und wie geht es sonst zu Hause? Gattin wohlauf?»
    Jetzt mal wieder den Briefwechsel im«ZEITmagazin»lesen, zwischen der Maron und dem Herrn von

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