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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Freiheit»gemocht, da war sie wirklich unvergeßlich.
    Den«Dorf»-Roman als einen Roman auf Zetteln konzipieren.
    Von den Notizen ausgehen, die bereits vorhanden sind. Das Zettelprinzip mit allen Dispositionsentwürfen usw. Eine unauffällige, stille Sache.
    Neulich eine Frau nach der Lesung: Ich habe Ihre Schritte in Halle gehört. -? - Im Untersuchungsgefängnis. -? - Ich habe zur selben Zeit wie Sie da gesessen.
    Hat mir mal einer erzählt, die Bluter hätten immer einen blutigen Geschmack im Mund.
    Schubert, Streichquartett. Merkwürdig, wenn sich die Spieler die Gefühle des Komponisten zu eigen machen und plötzlich zur Schau stellen. So wie die Dirigenten immer das Weltall tragen, wenn sie Viervierteltakt schlagen und beim Scherzo zu tanzen anfangen. - Wie hieß dieser alte Herr noch? Der im Sitzen dirigierte. Der machte es richtig, verzog keine Miene. War in der Partei gewesen und verzog keine Miene.
    Um mehr arbeiten zu können, mache ich jetzt mittags nur ein kleines Nickerchen.
    Große Schneeschweinerei. Ich mußte nach Oldenburg, fand dort nur zwei Zuhörer vor, setzte mich zum Türken und las den«Spiegel». Beim Türken stand tatsächlich ein Weihnachtsbaum. Kurzes, sehr vernünftiges Gespräch mit ihm darüber. In der Quabben-Schule war ein aufgehetzter Türken-Vater mal angerast gekommen: Sein Sohn klebt keine Sterne, verdammt noch mal! Er ist Mohammedaner! Die warten darauf, beleidigt zu werden. Rückfahrt durch die Schneescheiße. Riesige Laster überholten mich (ich fuhr 50) und überschütteten mich mit Schnee. Sekundenlang
blind, nur an die roten Lichter des Vordermanns gekrampft. So setzt man sein Leben aufs Spiel, und für was? Für die Pension, seien wir ehrlich.
    Koeppens Amerikabuch zur Hälfte. Läßt etwas nach jetzt, aber immer noch großartig.

Nartum
Di 19. Dezember 1989
    Bild: Heute Kohl in Dresden /Alle Deutschen drücken die Daumen
    ND: Vorschläge der SPD für die Zusammenarbeit mit der DDR
     
    5.30. - Uhr. Prasselregen auf dem Fenster. Sturm.
    Wieder so ein wahnsinniger Tag, Kohl in Dresden. Der Kanzler auf einer holzgezimmerten Tribüne, die Ähnlichkeit mit einer Hinrichtungsstätte hatte. Scheinwerfer erleuchten die tausend Köpfe der Menge. Viele Fahnen. Er redete sehr vernünftig. Aber er hätte rhetorisch ruhig etwas mehr geben können. Es ist überhaupt unverständlich, daß er eine so schlechte Presse hat. Radio Bremen drehte ihm das Wort im Munde um. Er habe die Einheit gefordert - was überhaupt nicht stimmt. Ich saß am TV und verfolgte alles ganz genau. Zwischendurch, soweit es die Gefühle zuließen, Arbeit am«Echolot». Jetzt übertrage ich die Tagebu+++++++++++++++++++++++++++++++++++cheintragungen des deutschnationalen Abgeordneten Quaatz, von den Nazis aus allen Ämtern gejagt, Sprüche und Zitate, hinter denen er seine Ansichten verbirgt.
    Mit Bittel wegen einer Broschüre für Rostock verhandelt, 500 Exemplare. - Von Hinstorff kam noch nichts. Das Telefonieren mit den Leuten da drüben ist eine Katastrophe, dauernd ist besetzt.
    Der Brief eines Ehepaars aus Gelbensande bei Rostock, ich könne dort jederzeit wohnen, sie würden sich freuen usw. Das kommt mir wie gerufen! Sehr netter Brief, erstaunlich einfühlsam, in der Heimat sollte ich mich wohl fühlen, dafür wollten
sie sorgen. - Gelbensande war Ziel von Familienausflügen - lang ist’s her. Vielleicht können wir öfter dort wohnen, bis zur See ist es nicht weit, oder uns einkaufen dort irgendwo. Graal ist in der Nähe. Hier haben sie ja keine Ahnung von der Schönheit der Ostsee. Das bißchen Ostseestrand in Schleswig-Holstein ist ja mit dem da drüben nicht zu vergleichen. Ich guckte mir Gelbensande auf der alten Mecklenburg-Karte an, die über meinem Bett hängt, und überließ mich meiner Phantasie. Habe Hildegard entsprechend was vorgeschwärmt. Ihr gefällt der Ortsname sehr. Ich würde am liebsten sofort losfahren, aber man braucht ja noch ein Visum. Robert war als Kind mal da, zur Erholung, schwärmt heute noch von dem Honig.
    In Rumänien sollen Hunderte erschossen worden sein. Auch so ein sozialistisches Lehrstück. - Sozialismus, was ist das eigentlich? Nachts noch lange Radio gehört. Originaler, von Morsegezirpe überlagerter, deutschsprachiger Hilferuf, von einem Funkamateur oder so was. Schaurig.
    Linsen mit Kohlwurst.
    Kann nicht einschlafen, leider. Da muß wieder eine Pille her.

Nartum
Mi 20. Dezember 1989
    Bild: Gott segne unser deutsches Vaterland
    ND: Treffen zwischen Hans Modrow

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