Alkor - Tagebuch 1989
telefoniert.
Eine Dame aus Saarbrücken schreibt:«Ich bin eine alte evangelische Pastorenwitwe, mein Mann ist seit 1945 in der Festung Thorn vermißt. So habe ich meine vier Kinder (damals alle unter zehn Jahren) allein erziehen müssen.»- Das ist kein Stoff für unsere zeitgenössischen Dichter. Wir werden uns solcher Schicksale annehmen.
Aus der Gegend von Hannover schreibt einer:
Können Sie sich noch an mich erinnern? Wir hatten ersten brieflichen Kontakt 1984, als ich gerade einen dreijährigen Dienst bei der NVA in Brandenburg abzuleisten hatte. Ihr Antwortbrief brachte mich damals, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen (z. B. Deckadresse),
in eine schlimme Lage. Ich mußte für neun Monate in die Militärhaftanstalt Schwedt,«unerlaubte Verbindungsaufnahme»lautete die Anklage. Man hatte eben mehr vermutet, als tatsächlich gewesen war. Aber das soll uns heute nicht mehr interessieren. 1985 habe ich dann nochmals einen Brief von Ihnen erhalten. Ich lebte in Ost-Berlin, und Sie gaben mir nur - und wohl auch sich selbst - den Rat, daß es besser wäre, die Korrespondenz auf sichere Zeiten zu verschieben.
Nartum
So 17. Dezember 1989
Welt am Sonntag: Gorbatschow an SED: Korruption, Lügen und Doppelmoral/Bewegung Demokratischer Aufbruch wird Partei
Sonntag: Wenn Stuyvesant kommt. 32. Internationales Dokumentarfilmfestival in Leipzig. Von Jutta Voigt
Gestern Nacht«Große Freiheit Nr. 7», sehr schöner Film, voll Atmosphäre, dabei komisch. Schön die Krawatten-Verkauf-Szene. Die Werner und Söhnker. Und Sagebiel an der Övelgönne. Ich glaub’, das Lokal gibt es noch immer. - Hilde Hildebrandt.«Er sagte, er würde mich lieben …», singt sie. Das zog mir schon damals die Schuhe aus.
Ein Stück meisterhafter Rabulistik hat sich gestern ein SED-Mann geleistet. Er hat gesagt: Vom Sozialismus sei nie Gewalt und Krieg ausgegangen, nur von«rechts», von der Stasi zum Beispiel oder vom Stalinismus. - Daß dieser Mann nicht einfach ausgelacht wurde! - Der Ruf nach der deutschen Einheit wird immer lauter. Es ist offen zugegeben worden, daß die ARD-Tagesschau in ihren Reportagen parteiisch vorgegangen ist, so z. B. nur eine einzige Demonstrantin befragt hat, und zwar eine, die gegen die Wiedervereinigung war.
Schlimmer noch als Schuld ist Scham.
Man muß den Gysi gehört haben!«Wir haben uns doch entschuldigt …», sagen sie. Als ob damit alles Leid wiedergutgemacht
oder ungeschehen gemacht sein könnte. Drei Generationen! Den Alten das Alter genommen, die mittlere Generation beschissen und die Jungen verdorben.
Foto: Wie ein Handwerker die Abhörleitungen der Stasi durchsägt.
Heute früh gegammelt. - Arbeit am«Sirius», er muß noch dichter werden. - Nachmittags erschöpft geschlafen, mit den Hunden gespielt. -«Echolot»: Vielleicht überschätze ich den Umfang ja auch.
Hildegard möchte hier mehr Betrieb haben. Kann ich verstehen. Aber auch nach längerem Nachdenken fällt mir kein Mensch ein, den wir einladen könnten, jemand, der auch kommen würde. Ich brauche eigentlich niemanden hier. Aber ein Kaffeestündchen oder eine«gemütliche Runde»gelegentlich.
Das drohende Weihnachtsfest.
Im TV: Plauen, junge Menschen, die das«Staatsemblem»aus der Fahne schneiden.
Mitternacht. Draußen stürmt es. Die Seelen hocken in den entlaubten Bäumen, welke Blätter in den aufgelösten Haaren. Es sind Frauen, und sie dulden meine Mutter unter sich, die sich«angepaßt»verhält. Bloß nicht auffallen, das ist auch unter diesen Lichtflutern die Devise, sonst muß sie auf die Hebriden. - Übrigens wollen sie von mir nichts, sie scharen sich um das Haus, als ob sie abwarten. Geht von uns Wärme aus? Sollte man sie hereinlassen? Aber sie kommen nicht, wenn man sie ruft.
Nartum
Mo 18. Dezember 1989
Bild: Ku’damm-Tragödie / Hotel-Diener rauchte unterm Tisch, 4 Tote
ND: Parteitag der SED-PDS setzte klare Zeichen: Wir stellen uns der Pflicht, für dieses Land Verantwortung zu tragen / Neu:«Sozialistische Tageszeitung»
Hildegard beklagt sich, daß die Hühner vorm Haus herumlungern und Futter haben wollen, während hinterm Haus die schönsten Gemüsereste auf sie warten.
Ich rief Ilse Werner an, wegen eines Interviews für«Echolot». Sie klagte, alle wollten immer nur was über die Nazi-Zeit von ihr wissen. - Da ich ebenfalls so einer bin, kommt ein Gespräch wohl nicht zustande. So verbauen sich die Menschen den Weg in die Unsterblichkeit. Ich hab’ sie eigentlich nur in der«Großen
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