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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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spekulierte, obwohl er doch so einen danebengegangenen Aufruf«an mein Volk»abgelassen hat, den sogar ein Herr Krenz unterschrieb.
    Manchmal scheint es, als säßen da zu Bonn oder Frankfurt oder sonstwo in der Bundesrepublik im stillen Büro einer Denkfabrik ein paar Kerle, die nach genauem Kalkül, mal lockerer, mal fester, an der Schlinge ziehen, die dem Esel um den Hals liegt, wobei sie dem Tier Finanzhilfe, Know-how, Managerial Help und was noch vor die Nase halten, um das Bündel dann um so höher schnellen zu lassen: Aber erst müßt ihr dies tun und jenes ändern und das uns garantieren; bis das arme Vieh, bepackt und geplagt, in die Knie geht und es vorzieht, sich schlachten zu lassen.
    So der große Nobel-Preis-Aspirant und Volkstribun. Das hat Niveau.
    23.30 Uhr. - Man sollt’ es nicht für möglich halten: Heute in der«Tagesschau»wurde gezeigt, daß Heym eine Rede für die Wiedervereinigung gehalten hat.

Nartum
Sa 9. Dezember 1989
    Bild: Im Namen des Volkes verhaftet/Stoph, Mielke / Grundig † / Quält mich nicht, bat er seinen Leibarzt
    ND: Sonderparteitag vollzog den endgültigen Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit
     
    Ein Mädchen, das vor vier Jahren im Sommerclub war, schickte heute ein Käfermärchen, ob ich jemand kenne, der so was verlegt, sie müsse allmählich mal ans Geldverdienen denken.
    Stefan Andres beim Einschreiben ins Gästebuch, eine schöne Blondine betrachtend, die sich vor ihm verewigt hat:«Hm - ä lecker Püppchen.»
    Aus dem Programmheft des Wolfsburger Literaturkreises über die Lesung Ingeborg Bachmanns:
    Im Gästezimmer (des Spiegelsaals) stellte sie mit Schrecken fest, sie hatte ihre Beruhigungstabletten im Hotel vergessen, sie bat mich dringend, sie ins Hotel zurückzufahren. Im Besitz der Tabletten fiel die Unruhe von ihr ab … Als wir den Ort Meine durchfahren hatten, erkundigte sie sich, ob nun vor Peine noch die Dörfer«Deine»und«Seine»kommen.
    Mitternacht. Eben klingelt es. Ich mache Licht, schaue aus dem Fenster, das Haus liegt still. Der Hund schläft. Eine Sinnestäuschung.
    Oft denke ich an das Leben in Konzentrationslagern, wie es uns geschildert wird. Es gab da ja große Unterschiede, neben der Höllenmaschinerie in Auschwitz-Birkenau den kleinen Uhrmacher, der sich bis zum Schluß apart halten konnte. Sachsenhausen, wo es unvorstellbares Elend gab neben einem geheimen Zirkelwesen. Die zusammenhaltenden Kommunisten, die paketekriegenden Nordländer (Nansen!). Es ist unmöglich, diesen Planeten zu beschreiben. Und immer falle ich auf die Knie, daß uns das erspart geblieben ist in Bautzen, und daß ich nicht nach Rußland kam.
    Möglicherweise komme ich im«Echolot»der Sache etwas näher,
ganz zwangsläufig finden dort die unterschiedlichsten Beschreibungen zueinander. Einige der frühen Veröffentlichungen, 1945/46, sind heutzutage vergessen. Das ergreifende Buch von Isa Vermehren zum Beispiel oder das schon erwähnte Tagebuch von Odd Nansen. Das verdienstvolle Auschwitz-Kalendarium liest natürlich niemand, wie sollte man das auch anstellen, wer ertrüge es? Man müßte es an quasi-sakraler Stelle täglich vor lesen, in einer zerstörten Kirche. Das wäre dann ein Mahnmal, das zum mindesten denen etwas gibt, die am Reihum-Vorlesen beteiligt sind: Feuerschalen kann man ja meinetwegen davorstellen, die schaden ja nicht.
    Daß ich nicht nach Rußland kam, habe ich vielleicht meinem Untersuchungsrichter zu danken, hat der ein gutes Wort für mich eingelegt?

Nartum
So 10. Dezember 1989
    Welt am Sonntag: Die SED entschuldigt sich beim Volk für die Existenzkrise der DDR/Neuer Parteichef Gysi gegen Wiedervereinigung / EG für Recht der Deutschen auf Einheit
    Sonntag: Nagelprobe. Über die Präsidialratstagung des Kulturbundes am 28. November. Von Wilfried Geißler
     
    Es ereignet sich so viel in diesen Tagen, daß man gar nicht weiß, was man alles notieren soll. Täglich gibt es Umwälzungen von größter Tragweite. Im TV sind Menschenmassen zu sehen, die in Bukarest und Prag demonstrieren, ja sogar in Moskau, wo Gorbatschow-Plakate zerrissen werden. - Das sind andere Demonstrationen als hier bei uns die folkloristischen Ostermärsche, Mahnwachen u. ä. Heute wurde Künstlern das Neu-Bemalen der Mauer gestattet, die Vopos leisten Stell- und Absicherungshilfe. Müßig zu sagen, daß die Originalbemalung wesentlich intensiver wirkte. Wenn«Künstler»losgelassen werden, da ist es bis zu Mahnmalen nicht mehr weit. Gestern wurde
dokumentiert, daß die

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