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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Asylanten-Anhörung künftig binnen 48 Stunden
    Sonntag: Die sanfte Erpressung. Zur Praxis der Theatermodelle Brechts. Von Werner Hecht

    T: Ich stehe in der Schulmeister-Wohnung und klebe Fotos ein. Das Rascheln des Zwischenpapiers.
     
    Heute schmökerte ich etwas im Wohltemperierten Klavier. Auf den Noten die Schnabelspuren von Pipsi, dem Wellensittich, der die Blätter während des Spiels anknabberte. Er ist nun schon ein paar Jahre tot.
    Wie KF als Kind sofort zu weinen anfing, wenn er die Orgel hörte, und mich bat, nicht zu singen:«Nicht, Vater!»Hielt mir den Mund zu.
    Dorfroman: Heute den ersten Finken schlagen hören. Unsere Hühner laufen jetzt wieder im Garten herum, etwas bleich und mitgenommen von der Winterpause. Meine Freundin hat graue Federchen bekommen und sieht absolut desolat aus. Hildegard meint, sie haben schon wieder ein Ei gelegt. Rennt sie denn da dauernd hin? Komischer Vorgang: Körner rein, Ei raus. - Die vollkommene Form des Eies. So vollkommen wie Schneeflokken oder Plankton.
    Lange am Computer gesessen. Das Abspeichern. Eben schreibt man, bums speichert er ab, und man sitzt da und wartet. Es sind nur Sekunden, aber sie kommen einem wie eine Ewigkeit vor.
    TV: Endlich mal wieder ein lustiger Fernsehabend, nur durch Zufall schaltete ich ein:«Zoff in Beverly Hills». Ich habe ihn aufgenommen, leider fehlen die ersten zehn Minuten. Sehr komisch und zeittypisch. Sollte man nicht meinen, daß die Amis so was hinkriegen. In Deutschland könnte ein solcher Film nicht entstehen.
    Ich ging noch lange in der Galerie auf und ab, eine Katze auf dem Arm, den Tränen nahe: Das Gefühl, an gekommen zu sein, wurde übermächtig. Eine traurige Heiterkeit,«daß alles so gekommen ist». Damals, im April 1945, hätte auf der Spandauer Brücke nur ein Posten zu stehen brauchen, dann lebte ich heute nicht mehr.
    «Es ist ganz ausgeschlossen, daß Sie nach dem 20. April noch aus Berlin rausgekommen sind. Alle Brücken und alle Ausfallstraßen waren gesperrt», schrieb einer. Es war aber so. Nach meiner

    Rechnung war es der 21. April. Die ganze Nacht über hatte ich mich noch auf einem U-Bahnhof rumgedrückt. Dann mit der S-Bahn bis in die Nähe von Oranienburg, wo bereits alles dicht war, Verwundete kamen mir entgegen. Dann nach Spandau mit der S-Bahn und dort gegen Mittag über die Brücke. Die Sonne schien, und es war reger Betrieb, auch Hausfrauen zum Einholen zeigten sich. Auf der Spandauer Brücke habe ich keinen Posten gesehen.
    Ich glaube nicht an Schutzengel, aber ganz offensichtlich wurde ich damals von einer Gruppe dieser geflügelten Wesen eskortiert: bin einfach rübermarschiert.

Nartum
Mo 13. Februar 1989
    Bild: Elstner gesteht: Ich wollte aufhören
    ND: Begeisternder Auftakt beim Treff Roter Sänger/19. Festival des politischen Liedes
     
    Post: Eine Dame will mir ihre Memoiren schicken.«Ich wäre bereit, sie Ihnen - jedoch nicht unentgeltlich - zum Abdruck zur Verfügung zu stellen, möchte mir aber ihre weitere Nutzung vorbehalten. »Sie sei ein«Otto-Normalverbraucher»-Zeitgenosse. Ich sah mir heute ein Buch über Mikrokosmisches an. Die Gesichter der Insekten unterm Elektronenmikroskop. Um so etwas zu sehen zu kriegen, braucht man nicht nach fernen Planeten zu suchen. Kann schon verstehen, daß Jünger sich sein Lebtag mit Käfern beschäftigte. Für mich wäre das nichts. Die«Radiolarien»als Symbole für Menschen sind nicht weniger wunderbar.
    In einem Buch über Friedrich II. (von Henri de Catt, dem holländischen Vorleser des Königs). Er schreibt von Plünderungen der Preußen und Österreicher, daß sie ganze Häuser einrissen vor Gier. (So weit gingen die Russen nicht, die brannten lieber ab, auch das, was ihnen bereits gehörte.) - Friedrich II. hat ihm was vorgetanzt und hat die holländische Sprache nachgeäfft. Kleine
ermüdende Anekdoten, aber: Husaren flanierten Arm in Arm, und Panduren lehnten den Pardon ab, den man ihnen gewähren wollte, ließen sich also lieber erschießen, als daß sie in Gefangenschaft gingen.
    Über Rossini: Flüchtiges Bedauern, daß ich kein Italienisch kann. Ich müßte es wenigstens bis zum Lesen schaffen.
    Daß Streichquartette eine deutsche Angelegenheit sind, kapiert man sofort.

Nartum
Di 14. Februar 1989
    Bild: Lafontaine geschieden / Sie folgte Tatort-Kommissar nach Berlin
    ND: Wanderfahnen für beste Leistungen im Wettbewerb/105 Betriebe und Einrichtungen werden geehrt
     
    Seitdem ich das Interesse an meinen Träumen verloren habe,

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