Alkor - Tagebuch 1989
mehr geradeaus gucken kann. Eine ganze Industrie beschäftigt sich mit Zeitvertreib. Man müßte
einen Freizeit-Katalog herausgeben. In dem würde jedenfalls das Lesen umfangreicher Bücher ganz obenan stehen.
Maidanek-Film: Eine Jüdin erzählt, sie hätten beim Transport einem deutschen Soldaten 80 Golddollar gegeben, nur für ein bißchen Wasser. Er habe das Geld genommen und kein Wasser gebracht. Selbst wenn man ihr heute eine Badewanne voll Quellwasser reichte, würde das die ewige Schande nicht wiedergutmachen, die dieser deutsche Soldat auf uns gehäuft hat.
Eigenartig, wie die Zeugen mimisch agieren, machen alles mögliche nach, singen was vor. - Sie hätten sich freiwillig nach Auschwitz gemeldet, weil Maidanek die Hölle gewesen sei. Es ist unbeschreiblich.
23 Uhr. - Am Abend sah ich auch noch die dritte Kassette des Maidanek-Films - ein diabolisches Meisterwerk. Ein Wunderwerk! Aufklärerisch, menschlich nach allen Seiten.
Ich habe damals sehr wohl mitgekriegt, daß etwas Schreckliches geschah. Es war die Gegenwart der Hölle, die allezeit im Bewußtsein war, obwohl ich nie etwas Konkretes hörte. Eine Jüdin mit Stern begegnete mir einmal in der St. Georgstraße, das war 1942, und der Kaufmann Hirsch natürlich, der Synagogendiener, d. h. dessen Sohn. Und dann wurde von diesem oder jenem gemunkelt:«Der ist Halbjude», oder:«Sie ist Jüdin»usw. - 1943 sah ich in Anklam einen Trupp Wehrmachtsgefangener, Matrosen, Luftwaffe, Heer, alles durcheinander, ohne Rangabzeichen. Desgleichen in Oranienburg 1945 einen Trupp KZler, die aber einen kräftigen Eindruck machten. Sie gingen offensichtlich zur Arbeit, marschierten in Kolonne, vielleicht 60 Mann. Und dann das Erlebnis in Kiel, im April 1945, ich habe es in T/W 2 geschildert. Sonst erinnere ich mich an nichts.
In der Nacht prompt vom KZ geträumt.
Nach so einem Film kommt einem die Musik vom dritten Programm direkt pervers vor.
Sie sagen, in den 20ern wäre keiner der Intellektuellen der Weimarer Republik zu Hilfe gekommen, niemand hätte sich zu ihr
bekannt. Heute ist es nicht anders. Heute ist es ganz selbstverständlich, daß man gegen die Bundesrepublik eingestellt ist. Sie machen große Augen, wenn man sagt: Aber wir leben doch eigentlich recht gut? - Gut? Sind Sie verrückt geworden? In diesem Scheiß-Staat?
O, wird das ein Gejammere geben.
Nartum
Do 16. Februar 1989
Bild: Kokain / Süchtige / Tote / Gerettete / Eine feine Gesellschaft
ND: Wahlperiode brachte gute Ergebnisse für die Bürger / Räte geben Volksvertretungen Rechenschaft
Am Vormittag langes Telefonat mit Fechner. Ich sagte: Merkwürdig, daß keiner der Zeugen oder Angeklagten geweint hat.«Das hab’ ich alles rausgeschnitten, kann ich nicht aushalten. Haufenweise, ganze Kübel rausgeschnitten.»
Die Russen verlassen Afghanistan. Sollte man da nicht schadenfroh sein? Angesichts der Opfer vergeht einem das. 15 000 sind gefallen, und die Afghanen beklagen mehr als eine Million Todesopfer! Von unserer Linken ist dazu nicht allzu viel zu hören.
1999: Swetlana Alexijewitsch über die erbärmlichen Zustände in Afghanistan:
Ich sagte mir: Wenn du’s jetzt nicht schaffst, wirst du nie ein richtiger Sanitäter … Beide Beine abgerissen … Ich band die Stümpfe mit einer Schlauchbinde ab, um die Blutung zu stillen, gab ein Betäubungsmittel … Ein Sprenggeschoß in den Bauch, die Därme hängen raus … Verbinden, Blut stillen, Betäubungsmittel … Vier Stunden hab ich ihn am Leben halten können, dann starb er …
Es fehlte an Medikamenten. Nicht mal unser gewöhnliches grünes Desinfektionsmittel für Hautwunden gab es. Mal wurden die Medikamente nicht rechtzeitig rangeschafft,
mal war das Kontingent erschöpft - unsere Planwirtschaft! Wir versuchten ständig, was zu erbeuten. Ich hatte immer zwanzig japanische Einwegspritzen in der Tasche. Die sind in weiches Polyäthylen verpackt, man braucht bloß aufzureißen und zu spritzen. Bei unseren Record-Spritzen reibt sich die Papierunterseite an der Verpackung auf, und die Spritzen sind nicht mehr steril. Die Hälfte davon saugt nicht an, pumpt nicht - Murks. Unsere Blutersatzmittel sind in Halbliterflaschen abgefüllt. Willst du einem Schwerverletzten erste Hilfe leisten, brauchst du zwei Liter, also vier Flaschen. Wie sollst du beim Gefecht den Infusionsschlauch eine Stunde lang mit ausgestrecktem Arm halten? Unmöglich. Und wieviel Flaschen kannst du mit dir rumschleppen? Was haben die Italiener? Einliterbeutel
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