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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Wuppertal steht eine Krankenschwester vor Gericht, die 17 Patienten der Intensivabteilung mittels einer Clonidinspritze zum Tode befördert hat. Sie sieht nicht unsympathisch aus. Es muß ein letzter großer Lebensgenuß sein, als lallender Greis von einer jungen Krankenschwester gemurkst zu werden.
    Was sagen die Feministinnen dazu? Wahrscheinlich wird aus ihrer Vita eine Opferrolle zusammengefummelt.
    Post: Brief einer Dame, neun Seiten, lila. Sehr lieb, ja natürlich auch erotisierend. Die Bücher, die ich schreibe, reichten wie ein langer Handschuh in die Menschheit hinein, ab und zu werde er ergriffen, und es wird daran gezogen: ob eine Hand darin ist. - Ja, es ist eine drin, aber die zieht sich zurück.
    Ab und zu träume ich von der Leserin, die nicht am Handschuh zupft, sondern sich darin einnistet. Gott sei Dank hat sie sich noch nicht eingestellt.
    Heute Nacht überprüfte ich, ob es den Hühnern gefällt, daß sie beheizt werden. Nein, es gefällt ihnen nicht. Sie rücken zur Seite.
    Ich im Nachthemd und Galoschen, Sturmwind im Haar. Heizung ausgeschaltet. Der Hahn kräht manchmal nachts. Vielleicht träumt er?
    Hildegards heimlicher Geliebter schnappt manchmal in die Luft, um zu zeigen, daß er notfalls beißen könnte.
    Jede freie Minute arbeite ich an dem«Echolot». Es müssen noch Tagebücher von Polen, Italienern usw. aufgetrieben werden, sonst wird die Sache zu einseitig.
    Zweifel bleiben weiter bestehen, ob das Unternehmen überhaupt realisierbar ist. Dies wird sich erst herausstellen, wenn sich mehr«Masse»versammelt hat. Auf verbindende Texte muß
unter allen Umständen verzichtet werden. Für Kursiv-Sätze bin ich nicht zu haben.
    Das Baader-Meinhof-Buch von Aust. Spannend. Das ist ja auch ein Teil unserer Lebensgeschichte. Vieles versteht man jetzt besser, obwohl man eigentlich nichts versteht. Und: Verstehen und Billigen sind zweierlei. Und: Verzeihen ist noch wieder was anderes. - Ich las den ganzen Tag.
    Abends Rinderfilet.

Nartum
Do 12. Januar 1989
    Bild: Helene (7) vor Imbißstube entführt
    ND: Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps: Den Abrüstungsprozeß beschleunigen - eine vorrangige Aufgabe im Jahr 1989/Die DDR bleibt stets ein zuverlässiger und berechenbarer Partner
     
    Sogenannte«Bürger der DDR»haben sich in die Berliner Vertretung der Bundesrepublik geflüchtet und wollen sie nicht eher verlassen, als bis ihnen die Ausreise gestattet wird.
    Im Fernsehen wird die Fassade des Botschaftsgebäudes gezeigt und der Posten davor. Wieso keine Bilder von drinnen?
    Man möchte gern wissen, was die zu essen kriegen und ob sie dafür zahlen müssen. Vielleicht teilen die Sekretärinnen ihr Frühstücksbrot mit ihnen? Die Amis würden einen schönen Film daraus machen, eine schwangere Frau müßte dabei sein, sonst geht so was nicht. Ob sie auch mal baden dürfen, in der Wanne des obersten Vertreters?
    In der Tagesschau zeigen sie die Fenster von außen: Schatten hinter den Gardinen. Eine sonderbare Art, die Menschheit zu informieren.
     
    2000: Kein Film darüber gedreht, kein Buch darüber geschrieben. Kein Thema. Dafür«Titanic»zum fünften Mal.

    TV: Bilder von den Erdbebenopfern in Armenien. Der eingeklemmte Kopf eines Verschütteten.«Der Mann lebt noch», höre ich sagen. Der wird’s vielleicht auch gehört haben.
    Einige Arbeiter seien in einer Konservenfabrik begraben, möglicherweise überleben sie, weil sie von den Konserven leben könnten. Soll mich wundern! Auch das wäre ein schöner Film für die Amis.
    Russische Schluderwirtschaft in Armenien. Die Hilfsgüter für die Erdbebenopfer hat man immer noch nicht verteilt.
    In der SU haben sie nicht einen einzigen Rettungshund! Auch kein Räumgerät. Aber eine Weltraumstation, in der im wesentlichen Experimente mit schwebenden Bleistiften gemacht werden. Statt ihren Menschen zu helfen, interessiert es sie, ob torkelnde Mäuse Geschlechtsverkehr haben.
    Wir hier im Westen haben zwar Rettungshunde und Räumgerät, sind aber andererseits mit allerhand Beknackungen geschlagen. Neuerdings gehen die Linken davon aus, daß das Technische Hilfswerk entweder völlig überflüssig ist oder daß es gar auf der Lauer liegt, uns bei günstiger Gelegenheit mit Diktatur zu überziehen.
    Ich gucke mir mit Wohlgefallen die Erdkrustenkarte an und freue mich, daß wir in unseren Breiten kein Erdbeben zu erwarten haben, kein Erdbeben und kein Hochwasser. Beim Abschmelzen des Poleises allerdings wird es uns hart erwischen. Da haben dann

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