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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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konservativ-liberalen Schwein in Nartum. Kloppen sich lieber mit einer Freundin auf dem Sofa, als daß sie bei Regen und eisigem Wind aufs Land fahren, zu einem Menschen, dem, wie sie gehört haben, der Kalk aus der Hose rieselt, und von dem man doch noch gar nicht wissen kann, ob er je in irgendwelchen Annalen verzeichnet sein wird.

    Hat sich in der DDR gegen den Sozialismus vergangen, dieses Schwein.
    So hatte ich denn den Abend frei. Fläzte mich vor den Fernsehapparat. Der«Liedermacher»Krawczyk war zu sehen mit seiner sympathischen Frau. Das sind Widerständler. Ob sie etwas von den alten Bautzenern wissen? Ist das Wispern aus dem«Gelben Elend»an ihr Ohr gedrungen? - Soll ich ihnen eine Postkarte schicken? Sie anerkennen, damit sie mich anerkennen? Schwur gegen Schwur auf dem Altar der Freiheit.
    22.30 Uhr. - Beim Spaziergang hatte ich die Vorstellung, es hingen Monatsbinden in den Bäumen der Allee.
    Der«Hokuspokus»-Film von Curt Goetz (1953). Jämmerlich.
    Diese jämmerliche 50er Jahre-Jauche. Unbegreiflich, es waren doch gute Schauspieler? Daß die sich das gefallen ließen? (Erich Ponto!)
     
    In der Nacht dann noch Bachs f-Moll-Präludium, das ich lange nicht gespielt habe. Ich konnte es mal auswendig. Ich stellte den Flügel auf und lauschte mir selbst, das tuckerte im Gehirn … Glenn Gould spielt es sehr langsam (zu langsam).«Andante espressivo»steht oben drüber. Schon recht. Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus. Das 1. Präludium spiele ich gerne rasend schnell, es kriegt dadurch einen fast jazzigen Rhythmus. - Gould bleibt auch bei diesem Stück fast stehen. - Die sonderbare Verunstaltung des Präludiums zum Ave Maria durch Gounod. Gut für Eistanzveranstaltungen. In unbewachten Augenblicken hört man sich das vielleicht doch mal an?
    Was gibt ein einziger Tag her …
    Auch das Ausstrecken im Bett und das so nötige Tagebuch. Ich zögere das Lichtausmachen hinaus, eine unerklärliche Angst vor der Nacht. Ich wache so lange, bis mir die Augen zufallen. Keine Angst vor Geistern ist das. Es ist eher die Furcht davor, daß ich nicht wieder aufwache.

Nartum
Mo 16. Januar 1989
    Bild: Robert Lembke/Er schlief sanft ein
ND: 250000 marschierten für Karl und Rosa
     
    Oldenburg: Bei den Pädagogen demonstrierte ich die Optische Analyse, was das ist und wie man das macht. Das Weitergeben alter Tricks: drei Wörter mit M wie zufällig untereinanderschreiben:
    M ilch
M aus
M utter.
    Dann warten, ob bei einem Kind der Groschen fällt. Auch bei den Studenten muß man warten, bis der Groschen fällt.
    Ich lief mit bunten Belohnungs-Gummibändern durch die Reihen und belohnte damit das Nennen von Wörtern mit M, wie ich es in der Schule tat. Wie gut, daß so was nicht höheren Orts bekannt wird, dann setzen sie mich bestimmt raus.
    Bei«Ali Baba»allein - Kebab und Teigrollen, die heute leider nicht ganz«durch»waren, dazu den«Spiegel»gelesen. Am Nebentisch saß ein Professor, gekleidet wie ein Strauchdieb, mit einem feingliedrigen Inder zusammen. Auf den Geist kommt’s an, wird der Hochschullehrer mit seinem Aufzug dem Fremdling wohl bedeutet haben wollen. Ja, wenn man welchen hat! Auch die Türken sollte man mal nach Erinnerungsbildern fragen. Vielleicht sind sie den unsrigen sehr ähnlich? - Ich tue es nicht, weil ich beim Essen meine Ruhe haben will.
    Im Literatur-Seminar lieferten mir die Teilnehmer Erinnerungen an Brücken.
    Im Lexikon der Symbole ist von Brücken keine Rede.
    In der Tschechoslowakei kam es zu Prügeleien. Die Demonstranten wollten auf dem Wenzelsplatz Jan Pallachs gedenken, das konnte sich die Staatsmacht nicht gefallen lassen.
    Von Pfarrer Brüsewitz spricht hier bei uns kein Mensch mehr. Dieses Volk scheint keine Helden zu benötigen. 24 000 Ritterkreuzträger haben den Bedarf für alle Zeit gedeckt.

    Post: Eine Ambitionsdame aus Berlin, die mir über das Kriegsende in Schlesien«ungeschminkte Tatsachen»mitteilen möchte, will lieber Cassetten besprechen, statt schreiben, das sei doch viel einfacher?«Was da zur Sprache kommt, wird schockieren, wo liegt die erlaubte Grenze?»
    Ob sie denkt, daß ich das alles abschreibe? Den ganzen Quark? und dann drucken lasse und sie damit in gebundener Form zum Weihnachtsfeste überrasche?
    Im Fernsehen war der Gedenkmarsch für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu sehen. Da hatten sich Leute eingeschlichen, die ebenfalls für die Märtyrer demonstrieren wollten, ebenfalls mit Transparenten, aber irgendwie andersrum. Die wurden

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