All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
passierte in London, am Sloane Square. Da gibt es viele Übergänge mit Zebrastreifen, und die Autofahrer hassen die wie die Pest. Man kann nicht damit rechnen, dass sie für die Fußgänger anhalten. Chris wollte davon aber nichts wissen. Sie fühlte sich im Recht und lief einfach drauflos. Ein Wagen kam angeschossen, mit einem ziemlichen Affenzahn, und konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Chris wurde angefahren. Der Fahrer rief gleich den Krankenwagen, es war also keine Fahrerflucht. Wurde dafür auch hops genommen, bekam eine saftige Geldstrafe aufgebrummt, hat eine Zeitlang gesessen. Chris war damals schwanger und hatte eine Fehlgeburt.«
»Gott, wie furchtbar.«
»Schlimmer noch – wir können keine Kinder mehr bekommen.« Er seufzte und fuhr am Bahnhof vor. »Wieso begreifen Autofahrer nicht, dass sie mit solchen Unfällen die wahre Hölle anrichten?«
Jury musste an Lu denken.
»Wir haben eine ziemlich üppige Abfindung bekommen.« Er lächelte matt.
»Ist das die Erklärung für die Schuhkollektion?«
»Nein, nicht ganz. Die Familie von Chris hatte Geld, recht viel sogar. Sie wurde als Einzelkind sehr verwöhnt: Kindermädchen, gute Schulen – das teure Internat dort an der Küste -, und nach ihrem Abschluss hätte sie nach Oxford gehen können, Cambridge oder sonst wohin, entschied sich aber dagegen und heiratete stattdessen mich.« Er lächelte düster. »Toller Tausch, nicht?«
»Ich würde sagen, sie hat es bestens erwischt, David.«
Dass Jurys Worte Sergeant Cummins unendlich wohltaten, war glasklar.
Sie saßen noch eine Weile im Wagen, in der Parkverbotszone vor dem Bahnhof. Jury fragte ihn, ob er sein ganzes Leben in London gewohnt hatte. Ob er sich deshalb dort wie zu Hause fühlte?
»Nein, in Northumberland bin ich geboren. Wir sind dann in den Süden gezogen, erst nach Portsmouth, dann nach Hastings. Mum liebte die Küste. Sie hatte was von einer Zigeunerin, zog gern umher. Hastings, Brighton, Bexhill-on-Sea, und dann wieder zurück. Hat unseren armen Dad wahnsinnig gemacht.« Cummins lachte, offenbar um den Wahnsinn zu untermalen.
»Was machte er denn beruflich?«
»Gemüsehändler war er. Komisch, nicht? Damals hätte ich alles getan, um bloß von Auberginen und Äpfeln wegzukommen. Heute bin ich mir da nicht so sicher.«
»Dann sind Sie wegen Chris aus London rausgezogen?«
Ohne direkt darauf zu antworten, sagte David: »Na ja, kleine Opfer muss man schließlich bringen, nicht? Bei mir ist es zum Beispiel die eine Schachtel pro Tag.«
Jury lachte kurz auf. »Das ist aber kein kleines Opfer. Ich weiß Bescheid, ich habe selbst vor drei Jahren aufgehört.«
Nach einer Pause sagte David: »Ich fürchte, so weit bin ich noch nicht. Sie wissen schon, heimlich hintenrum immer mal wieder eine schlauchen? Haben Sie denn eine von diesen ›Krücken‹ benutzt – ich meine, diese Hilfsmittel, mit denen man ganz allmählich reduziert? Oder Nikotinpflaster?«
»Nein. Für mich ging es dabei um mehr als bloß ums Nikotin.«
»Ich für meinen Teil warte auf ein Wodkapflaster. Oder eins für Guinness. Etwas, was mir wirklich hilft.«
Jury lachte.
Offensichtlich angetan von dem Thema, fuhr David fort: »Für eine Frau ist es schwer, mit einem Mann zusammen zu sein, der raucht. Ein Kuss schmeckt wohl auch nicht so richtig, nach Zigaretten eben.«
Jury lächelte. Es hörte sich an wie ein Song von Cole Porter: Deine Lippen schmecken nach Zigaretten … Er sagte: »Was haben wir früher das Rauchen verklärt. Erinnern Sie sich noch an Reise aus der Vergangenheit ? Wie Paul Henreid die beiden Zigaretten anzündet? Eine für sich, eine für Bette Davis?« Er musterte Cummins, um sein Alter zu schätzen. »Damals waren Sie vermutlich noch gar nicht geboren.«
»Ich bin kein junger Spund, ich bin siebenunddreißig. Den Film habe ich sogar gesehen. Toll, bis auf den Schluss. Sie hätte ihn haben können, wieso hat sie ihn nicht genommen?«
Jury überlegte, kam aber nicht mehr darauf. »Na, soweit ich mich erinnern kann, war der Film ziemlich moralingesäuert. Wie die meisten Filme damals. Hatte wahrscheinlich was mit Ehre zu tun.«
»Ich pfeif auf die Ehre«, sagte David und lächelte verbissen.
10. KAPITEL
Eine Viertelstunde später saß Jury im Zug auf der Metropolitan Line Richtung London und sprach von seinem Handy aus mit Wiggins.
»Jemand hat für Mariah Cox einen Haufen Geld springen lassen«, sagte Jury. »Irgendwo in diesem Wirrwarr muss es einen gut betuchten Mann geben.
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