Alle Farben der Welt - Roman
manchmal ausbrechen, möchte herausschreien, dass es etwas gibt, was nicht richtig ist, dann schaue ich zum Altar und senke den Blick. Ich sehe all die Füße, die den Boden besudeln, ihn mit Blättern und Erde verschmutzen, und dann frage ich mich, ob das schon das Wunder ist, all diese Verrückten, die frei durch das Dorf gehen dürfen, die den Boden der Kirche beschmutzen und aus der Reihe tanzen dürfen, ohne dass jemand sie schlägt, oder ob es gar keine Wunder gibt und auch dies nur irgendein Käfig ist, »was der Schrecken aller Schrecken ist«, wie Sie es nannten, ein Gehege, in das wir die Menschen stecken, die uns stören, und die wir dann vergessen.
Manchmal schaue ich zur Holzdecke der Kirche hinauf und denke, gleich dahinter beginnt der Himmel, und ich denke weiter, dort ist meine Mutter und auch Gott, doch dann denke ich, dort ist keiner von beiden, und manchmal weiß ich nicht mehr, was es für einen Unterschied macht, ob sie da sind oder nicht.
Anfangs nahm ich das Veloziped, sobald sich eine Gelegenheit bot, und kehrte auf die Felder zurück, zu Icarus, zu Gaston, zu den Orten, die meine gewesen waren, um mich zu vergewissern, dass sie sich nicht verändert hatten.
Ich kehrte überallhin zurück, außer zur Kohlengrube.
Doch meine Besuche wurden bald seltener. Icarus hatte immer viel zu tun, nie hatte er Zeit für mich, und das Haus der Vanheims war groß, hell und gepflegter als das der De Goos’. Es gab dort Aquarelle von Monsieur Zoeks Schülern, einen großen Bücherschrank gleich neben dem Eingang und einen Flügel, an dem die Kinder Klavierstunden bei Petite Colbert nahmen.
Ich half im Haushalt, so wie die Verrückten in den anderen Familien, jeder arbeitete nach seinen Möglichkeiten, einer kümmerte sich um den Garten, der nächste machte Seife, wieder ein anderer stickte oder versetzte Wasser für die Gebärenden mit Quecke und Salz.
Ich kümmerte mich am liebsten um die Wäsche.
Jeden Morgen nach dem Frühstück ging ich in die Kammer im hinteren Teil des Hauses. Ich sehe noch den enormen Bottich mit warmem Wasser und die auf dem Boden aufgehäufte Schmutzwäsche vor mir. Tag für Tag rieb ich mit aller Kraft Monsieur Vanheims Hemdkragen, die Taschentücher von Madame und die Unterwäsche der Kinder. Vor allem ihre winzigen Strümpfe begeisterten mich. Ich stellte mir vor, dass auch ich irgendwann ein Kind haben würde und ich seine Füße dann in nur eine Hand nehmen könnte. Ich liebte es, dass die Dinge wieder sauber wurden. Ich hatte gelernt, Tintenflecke mit Zitronensaft und Salz zu entfernen und Stockflecke mit kochender Milch.
Niemand störte mich, und womöglich war das der eigentliche Grund, weshalb mir diese Arbeit so ans Herz gewachsen war: mein Bedürfnis, allein zu sein. Meine Höhle in den Feldern war weit, und so war diese Waschküche zu meinem täglichen Refugium geworden. Ich träumte von Icarus und der Zukunft, von meiner Zukunft. Sie roch gut, sauber.
Mein neues Leben gefiel mir.
Eine Zeit lang war ich in Geel in aller Munde. Ich war berühmt . Die Ereignisse in der Mine waren im Dorf zur Legende geworden. In den Wirtshäusern erzählten die Grubenarbeiter immer wieder aufs Neue, was in Osten geschehen war. Die Bauern fragten mich über die Einzelheiten der Explosion aus, und meine Geschichte verbreitete sich in den Gasthäusern und auf den Feldern, wobei sie immer mehr ausgeschmückt wurde.
Früher oder später hörte jeder von meinem Abenteuer und kannte nun meinen Namen, die Einwohner von Geel ebenso wie die der Nachbardörfer und sogar Fremde auf der Durchreise. Ich war noch ein Kind und fand es amüsant, so berühmt zu sein: »Teresa Ohneruh kann in die Zukunft sehen«, »Teresa Ohneruh hat allen in der Mine das Leben gerettet«, »Dieses Mädchen hat magische Kräfte«.
Es war vielleicht amüsant, doch leicht war es nicht, wie ich schon bald bemerken sollte.
Heute ist es für mich qualvoll, mich als etwas Außergewöhnliches zu fühlen, anders als die anderen zu sein. Doch damals war ich stolz darauf, es gefiel mir, im Mittelpunkt zu stehen. Ich antwortete stets, ich hätte etwas gesehen, ein Feuer, bevor das alles passierte.
Wenn ich im Dorf vorüberging, nahmen die Männer ihren Hut ab, die kleinen Mädchen machten einen Knicks, und alle bedrängten mich mit Fragen. Wird es schneien? Wird es eine Hungersnot geben? Wird mein Sohn aus dem Krieg zurückkehren? Werden wir Kinder haben? Gaston fragte mich, ob er jemals das Meer wiedersehen werde, und
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