Alle Farben der Welt - Roman
hat Sie in der Nähe des weißen Grabmals der heiligen Dymphna beigesetzt. Sie ruhen nun in der Erde der Farben. Sie werden der Erde ihre Farben zurückgeben. Ich folge Ihnen bald nach, Monsieur van Gogh. Warten Sie auf mich.
Mein Herr und Gott, ich rufe dich,
bitte heile du auch mich!
Kannst du Heilung mir nicht geben,
so lass mich doch ohne Schmerzen leben.
Heilige Dymphna, setz dich für uns ein,
arme Narren, Brüder dein!
Du, die du weißt, was Wahnsinn ist,
nimm fort ihn, wenn du uns gnädig bist.
Du, die du weißt, was Wahnsinn ist,
nimm fort ihn, wenn du uns gnädig bist.
Heute Nacht hatte ich einen Traum.
Von einer weißen Spukgestalt, einer Frau. Sie sah mir ähnlich. Sie umarmte mich. Diese Umarmung war anders als alle Umarmungen, die ich sonst in meinem Leben gespürt habe. Die Frau nahm mich bei der Hand, und wir machten uns auf den Weg. Sie begann zu singen, mit geschlossenen Augen. Es war ein Kinderreim, ein merkwürdiger Kinderreim, doch ohne Schimpfwörter. Nein, keine Sorge, Schwester Henriette, nichts Anstößiges. Ich sage keine Schimpfwörter mehr. Keine Sorge, Schwester, ich bin sanft wie ein Lamm.
Darf ich Ihnen diesen Reim aufsagen? Bitte. Ich mag ihn.
Wie er beginnt, weiß ich nicht.
Doch ich weiß, wie er endet.
Das weiß ich genau.
Gelb, ja Gelb, ich weiß es nicht
Ob ich wiederseh dein Licht
Doch falls nicht und unterdessen
Werde ich dich nie vergessen
Werde ich dich nie vergessen.
Nachbemerkung des Autors
Der Erste, der mir von Geel erzählte, diesem Ort in Belgien, in dem Geisteskranke seit dem Mittelalter mit den anderen Einwohnern zusammenleben, ohne isoliert und weggesperrt zu werden, war der mit mir befreundete Fotograf Paolo Della Corte. Das war gegen Ende des Jahres 2007, und seither geisterte Geel in meinem Kopf herum. Viele Geschichten rankten sich um diesen Ort, und Geel selbst war eine Geschichte, die erzählt werden wollte, eine Art »Spoon River«. Ich stellte fest, dass kaum jemand sie kannte (bei Foucault ist sie nur beiläufig erwähnt), und so wuchs in mir der Wunsch, sie mir zu eigen zu machen. Im Laufe meiner Recherchen konzentrierte ich mich unwillkürlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die Zeit also, in der die Hospitalisierung der Kranken (und von Menschen, die irrtümlich dafür gehalten wurden) einen grausamen Höhepunkt erreichte und in der Geel eine auch heute noch unglaubliche Ausnahme war.
Auf Vincent van Gogh stieß ich Ende 2008.
Er kam für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das war, als mir klar wurde, dass er bis zu seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr – dem Alter, in dem ich damals selbst ungefähr war – noch nicht ein Bild gemalt hatte, er lebte noch nicht in seinen Farben, er war noch ein ganz anderer Mensch. Ich lernte ihn als einen schüchternen, stolzen, jungen Mann kennen, egoistisch und nachdenklich, der Gott suchte, ihn aber nicht fand, der auch seine eigene Bestimmung suchte, sie aber nicht fand. Ich sah ihn als jemanden, der mir und meinen Freunden ähnelte, als jemanden, der Angst hat, der Zukunft nicht gewachsen zu sein.
Doch vor allem fragte ich mich, was in jenem einen Jahr zwischen dem 14. August 1879 und dem 22. Juni 1880 geschehen war, in dem van Gogh keinen einzigen Brief geschrieben hatte. Über dieses Jahr weiß man nichts, außer dass er nicht länger als Prediger arbeitete und lange Wanderungen durch Belgien unternahm. Mich erstaunte, dass die Biografen sich nicht für das »Wunder« interessierten, das ihn ohne Kunstakademien und Lehrer in einen Maler verwandelt hatte. Für mich war es spannend, diesen Lebensabschnitt van Goghs nachzuzeichnen: die ersten Gemälde, seine Pilgerfahrt hin zu den Farben.
Für mich war klar, dass er durch Geel gekommen und dort zum Maler geworden war.
Van Gogh erwähnt Geel und die Absicht seines Vaters, ihn dorthin zu schicken, in einigen Briefen an seinen Bruder Theo zwischen November 1881 und Juli 1882. Er schreibt nicht, dass er dort war, und scheint die Aussicht, dorthin zu müssen, gehasst zu haben, doch das ist nur zu verständlich. Denn dort hat er erfahren, was Wahnsinn ist und dass Wahnsinn sein Schicksal sein könnte. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass er dem entgehen wollte.
In diesem Buch sind Bilder und Worte van Goghs enthalten. Die erste Skizze, die Teresa in dem Brief findet, den sie Vincent heimlich entwendet, bezieht sich auf die Zeichnung Vollkommen Winter, auch im Leben aus dem Jahr 1877. Sie befindet sich in einer
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