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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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noch immer unter den halb geschlossenen Lidern hervorsahen.
     
    Haregewoin lief aus dem Zimmer. Sie rief im Black Lion Hospital an, der wichtigsten Klinik im Bereich Lehre und Tertiärversorgung in Äthiopien, die an die medizinische Fakultät der Universität von Addis Abeba angeschlossen ist. Sie rief ein Taxi (Krankenwagen gab es praktisch keine). Sie nahm sich das Hausmädchen vor, das von nichts wusste, am wenigsten davon, dass es die ganze Zeit über eine besorgte Mutter in Kairo gegeben hatte.
    »Warum hat man mir nicht Bescheid gesagt?«, brüllte sie. »Wo steckt dieser Teufel von Ehemann? Wo ist Ashiber?«
    Das Hausmädchen warf einen kurzen Blick auf eine geschlossene Tür, dann sagte sie: »Er ist in der Arbeit.«
    Haregewoin riss die geschlossene Tür auf und sah ein hübsches Schlafzimmer vor sich. Sie begriff - er schlief getrennt von seiner Frau.
    »Wo schläft das Kind?«
    »Bei mir«, sagte das Hausmädchen und deutete auf einen Strohsack auf dem Küchenboden.
     
    Atetegeb flüsterte nur einmal schwach »Nein«, als der Taxifahrer, den Haregewoin eigens dafür bezahlte, sie aus dem Bett hob. Haregewoin war entsetzt, wie abgemagert ihre Tochter war. Sie hüllte sie in eine Decke. Das helle Licht tat den Augen ihrer Tochter weh. Sie war eingeschrumpft und fahl wie ein unter der Erde lebendes Tier, das man plötzlich ans Tageslicht geholt hatte. Im Krankenhaus gab man Atetegeb ein Bett in der Ecke eines großen, hohen, alten Krankensaals. Sie erhielt eine Bluttransfusion, wurde intravenös ernährt.
    »Doktor, bitte! Was hat sie?«, fragte Haregewoin weinend draußen auf dem Flur.
    »Es könnte Leukämie sein«, sagte einer der Ärzte. »Sie ist völlig ausgezehrt.«
    »Es ist bestimmt eine Lungenentzündung«, sagte eine Krankenschwester.
    »Sie hat Tuberkulose«, erklärte ein Pfleger.
    »Das ist Hautkrebs«, sagte jemand aus dem Labor.
    Haregewoin saß auf einem Stuhl neben Atetegebs Bett, rang die Hände, wiegte sich vor und zurück.
    Antibiotika brachten die Tuberkulose zum Verschwinden, machten Atetegeb das Atmen ein wenig leichter. Aber kaum war die eine Gefahr beseitigt, trat eine neue auf. Über Wochen verbrachte Haregewoin die Nächte auf dem Stuhl neben dem Krankenbett. Alle paar Tage kehrte sie für einige Stunden in Atetegebs Haus zurück, um zu duschen, ein bisschen zu schlafen und zu kochen. Sie brachte Körbe voller Essen mit ins Krankenhaus, riss injera in Stücke, die sie zusammenrollte und ihrer Tochter an den Mund hielt. Aber Atetegeb wollte nichts essen und fing aus Widerwillen an zu weinen.
    Eines Nachts fragte Haregewoin Ashiber. »Was hast du dir dabei gedacht?«
    »Wir waren bei einem Arzt«, sagte er. »Ich habe Medizin gekauft. Was soll ich denn noch machen? Ich habe ein Dienstmädchen eingestellt, das ihr hilft. Soll ich etwa zu Hause bleiben? Wenn ich nicht mehr arbeite, landen wir auf der Straße.«
    »Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«
    »Meine Frau hat dir jede Woche geschrieben. Du hast dauernd angerufen. Wie kann ich ahnen, dass du nichts von ihrer Krankheit gewusst hast?«
    »Sie hat mir nichts davon erzählt«, sagte Haregewoin niedergeschmettert.
    »Da siehst du es.«
    Mit vier Monaten war das Baby zu einem freundlichen kleinen Kerl herangewachsen, der sehr an dem Hausmädchen hing. »Er ist ein richtiger Wonneproppen und sehr klug«, lobte Haregewoin den Kleinen eines Nachts Ashiber gegenüber, und Ashiber fing an zu strahlen und sagte: »Das ist er! Ich weiß, ich weiß! Ein guter Junge!« Leiser fügte er hinzu: »Wie geht es Atetegeb?«
    »Du solltest sie im Krankenhaus besuchen, weißt du.«
    »Irgendjemand in der Familie muss schließlich arbeiten - und sich um unseren Sohn kümmern«, erwiderte er schroff, um Haregewoin daran zu erinnern, dass er auch einer großen Belastung ausgesetzt war.
    Haregewoin wurde klar, dass ihr Aufenthalt in Addis Abeba von unbefristeter Dauer sein würde, und mietete ein Haus mit zwei Zimmern und Küche, einer gemauerten Latrine und einer Dusche im Freien. Der Vorgarten war von einer Abgrenzung aus Blech umgeben und bestand aus gestampfter Erde, aber sie dachte, dass sie Blumen pflanzen könnte, damit Atetegeb im Frühling etwas hatte, woran sie sich freuen konnte. Sie kaufte in einem Laden an der Straße ein paar Möbel - Sessel und ein Sofa - und ließ sie sich von einem Taxifahrer bringen. Unsinnigerweise war sie glücklich; sie konnte es kaum erwarten, für Atetegeb ein Zimmer herzurichten.
    Der Zustand der

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