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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Inneren jede Stunde einoder zweimal: Da stimmt etwas nicht . Vielleicht stimmte mit dem Kind etwas nicht. Ihr Entschluss stand fest: Sie musste nach Addis Abeba. Sie flog nach Hause, ohne jemandem etwas von ihrem Kommen zu sagen, und ließ sich von einem Taxi zum Haus ihrer Tochter fahren.

9
    Mit einem Koffer voller Geschenke stand sie vor dem Hoftor. Eine ihr unbekannte Frau mittleren Alters öffnete ihr, ein Hausmädchen, mit dem zwei Monate alten Säugling im Arm.
    Haregewoin betrat die betonierte Einfahrt und streckte die Hand nach dem kleinen Jungen aus. »Ich bin seine Großmutter«, sagte sie. Sie beugte sich zu ihm und atmete seinen säuerlich-süßen Geruch ein. Innerhalb von Sekunden eroberte sich das Baby einen festen Platz in ihrem Leben, neben Worku, Atetegeb und Suzie. Ein entzückender Junge mit samtiger Haut, weit geöffneten runden Augen und vollen dunklen Lippen; er war so glatt wie ein Stück Seife, fest und angenehm. Ein paar einzelne Löckchen standen ihm vom Kopf ab, seine Augenbrauen sahen aus wie zarte Federn und verliehen ihm einen fragenden Ausdruck.
    »Wo ist meine Tochter?«, rief Haregewoin und war selbst erstaunt, wie schnell der Argwohn, der sie hierhergeführt hatte, in reine Freude umgeschlagen war. Während sie vor der geschlossenen Schlafzimmertür ihrer Tochter darauf wartete, dass das Hausmädchen ihr Kommen meldete, hatte sie das Gefühl, einen kleinen Kaiser im Arm zu halten und vor den Gemächern der Kaiserinmutter zu stehen.
    »Hallo, Liebes! Ich bin es, Mama!«, rief sie durch die geschlossene Tür. Sie badete in dem hellen Leuchten auf dem Gesicht ihres Enkels. Seine Augenlider flatterten, ein winziges Schnauben kam aus der kleinen Nase, er zuckte kurz, stieß einen Seufzer aus und schlief ein. Als sich der Griff seiner warmen kleinen Hand um ihren Finger lockerte, verabschiedete Haregewoin sich innerlich von dem Leben, das sie sich in Kairo aufgebaut hatte. Würde sie den Kleinen auch nur so lange verlassen können, wie sie brauchte, um zurückzufliegen und ihre Sachen zu packen? Nein, Suzie konnte ihr alles schicken. Sicher fand sie in der Nähe ein Haus, das sie mieten konnte. Sie schwebte wie auf Wolken.
    Das Hausmädchen öffnete die Tür. »Kommen Sie herein, Madam.«
     
    Hohe Holzläden hüllten den Raum in Dunkelheit. Es roch durchdringend nach Medizin; auf der Kommode stand eine ganze Batterie von Fläschchen mit Tropfen und Tabletten. Zwischen zerwühlten Laken lag verloren eine abgemagerte Frau mit kurz geschnittenen Haaren und aufgesprungenen Lippen. Auf einer Wange hatte sie eine längliche Warze. Ihre knochigen nackten Beine bewegten sich ruhelos hin und her und traten nach den Decken. Ihre Augen waren nur halb geöffnet.
    »Atetegeb?«, flüsterte Haregewoin und blickte verwirrt das Hausmädchen an. »Wo ist...?«
    »Atetegeb?«, wiederholte sie und trat näher. Sie gab dem Hausmädchen das Kind, plötzlich war ihr schwindlig, und sie hatte Angst, sie könnte es fallen lassen. Vor ihren Augen tanzten Lichter, und ihr Mund war auf einmal ganz trocken; sie taumelte und hielt sich an einem Stuhl fest.
    »Liebes? Atetegeb? Ich bin’s, deine Mutter.«
    Das Gesicht ihrer Tochter blieb ausdruckslos, aber die Finger der Hand, die Haregewoin am nächsten lag, streckten sich ihr entgegen. Haregewoin umfasste die Hand ihrer Tochter und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Durch die Decken hindurch spürte sie die Hitze des Fiebers.
    »Liebes! Mein Gott, was ist mit dir passiert?«
    »Mutter. Ich bin krank.«
    »Wie kann das sein? Was fehlt dir?« Erneut sah sie das Hausmädchen an.
    Das Mädchen - eine stille Frau in den Vierzigern - lächelte traurig und zog sich mit dem Kind zurück, schloss leise die Tür hinter sich.
    »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte Haregewoin.
    Nach einem langen Schweigen sagte die junge Frau: »Ich wollte dir keinen Kummer machen.«
    Ihre Worte zogen einen kraftlosen Hustenanfall nach sich. Atetegeb versuchte die Augen zu schließen, aber ihre Augäpfel traten so stark hervor, dass sich die pergamentartigen Lider nicht schließen konnten. Ihre Finger zuckten unruhig. Auf dem Nachttisch lag ein trockener Waschlappen, der die Form ihrer Stirn hatte.
    »Soll ich ihn nass machen?«, fragte Haregewoin, und Atetegeb nickte. Mit unendlicher Zärtlichkeit strich Haregewoin ihrer Tochter mit dem feuchten Lappen über das Gesicht. Die knochigen Finger entspannten sich; sie schien eingeschlafen zu sein, obwohl die trockenen Augen

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