'Alle meine Kinder'
Patientin war unverändert. Ihr widerstandsloser Körper wurde von Krankheiten und Medikamenten in Besitz genommen. Aber der Arzt erklärte, sie sei gesund genug, um nach Hause entlassen zu werden.
»Ich nehme dich mit zu mir«, erklärte Haregewoin ihrer Tochter.
»Frag erst Ashiber«, sagte Atetegeb.
Haregewoin rief ihren Schwiegersohn an. »Ich bringe sie in mein Haus.«
»Du solltest sie hierherbringen«, sagte er.
»Nein. Du bist ihr Mann, aber ich bin ihre Mutter. Du kannst eines Tages wieder heiraten. Wenn ich sie verliere, wird es für immer sein.«
Sie brachte Atetegeb in das saubere Zimmer mit der frischen Bettwäsche in dem Haus am Hügel. An dem Feigenbaum vor dem Fenster reiften dicke Feigen, und zwischen den Blättern flatterten Tauben herum.
Eines Morgens fuhr Haregewoin sehr früh mit dem Taxi weg und kam mit dem Baby zurück. »Sieh mal, wer hier ist, um seine amaye zu besuchen«, sagte sie leise, als sie ihre Tochter am Vormittag weckte. Er war jetzt sieben Monate alt, rund und warm wie ein frischgebackenes Brot. Die hellen braunen Haare ließen sein Köpfchen aussehen wie eine Pusteblume. Atetegeb war zu schwach, um ihn zu halten, deshalb kletterte Haregewoin hinter ihr auf das Bett und stützte sie, während sie den Jungen vor sie hielt. Ihre Arme umschlossen Mutter und Kind. Der Kleine öffnete die Augen und lächelte. In seinem Mund blitzten zwei Zähnchen. Die beiden Frauen lachten.
»Er erinnert sich an mich!«, rief Atetegeb.
»Ja, mein Liebes«, sagte Haregewoin.
Als Atetegeb zu erschöpft war, um noch länger zu sitzen und zu lächeln, brachte Haregewoin das Kind nach Hause. Ashiber stand mit verschränkten Armen in der Einfahrt. Das Hausmädchen war in Panik geraten und hatte ihn in der Arbeit angerufen. »Mach das nie wieder«, sagte er warnend zu Haregewoin. »Hol nie wieder meinen Sohn aus diesem Haus. Mein Sohn bleibt hier.«
»Sie ist seine Mutter.«
»Er bleibt hier.«
»Sie ist seine Mutter, Ashiber«, sagte Haregewoin müde. Sie gab ihm den fröhlichen Jungen in seiner nassen Windel, ging ins Haus, holte ein paar Sachen von Atetegeb und kehrte zurück zu dem wartenden Taxi.
»Hast du mich verstanden, Waizero Haregewoin?«
»Sie ist seine Mutter.«
Sie bedachte das Kind auf dem Arm seines Vaters mit einem letzten Blick, dann schlug sie die Autotür zu und fuhr weg.
Jetzt war es Suzie, die aus Kairo schrieb: »Mutter, soll ich kommen?«
»Nein, mein Liebes, du bist die Einzige von uns dreien, die arbeitet. Von Ashiber erwarte ich keine Hilfe. Gott allein weiß, ob du hier eine Arbeit finden würdest.«
Haregewoin griff bedenkenlos auf das Geld, das Worku ihr hinterlassen hatte, und auf ihr Erspartes zurück; sie kaufte Zeit für ihre Tochter, sie kaufte Hoffnung. Wenn ihr etwas über ein neues Medikament zu Ohren kam, kaufte sie eine Schachtel davon; sie telefonierte mit allen möglichen medizinischen Einrichtungen. Sie rief in Übersee an. Fünf Mal in zehn Monaten ließ Haregewoin ein Taxi kommen und ihre Tochter jedes Mal in ein anderes Krankenhaus bringen.
Ashiber besuchte sie nur ein Mal in ihrem Haus. Ein frischer Lufthauch umgab ihn wie ein Cape; seine strotzende Gesundheit und seine Kraft, seine auf Hochglanz polierten Schuhe, seine tiefe Stimme und der Geruch von Aftershave gehörten nicht in dieses Haus mit den beiden Frauen und den Krankheiten.
»Bitte, Ashiber, lass mich unseren Sohn sehen«, flüsterte Atetegeb, abgemagert und gelbgesichtig.
»Ich bringe ihn morgen her«, sagte er erstaunlich nachgiebig.
Aber er hielt sein Versprechen nicht. Er brachte ihn nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten und übernächsten.
Haregewoin rief an. »Ich komme morgen früh zu dir, um den Kleinen zu holen; er soll seine Mutter sehen. Mittags bringe ich ihn wieder zurück.«
Aber am nächsten Tag stand sie vor einem dunklen und verschlossenen Haus.
»Er hat Angst, dass wir den Kleinen entführen«, sagte Atetegeb. »Das Kind ist der einzige Mensch auf der Welt, den er liebt.«
Er hat Angst, dass sich das Kind die Krankheit seiner Mutter holt , dachte Haregewoin.
Atetegeb litt an furchtbaren Durchfällen, und sie war wundgelegen; ihre Kräfte ließen rasch nach. Ohne jede Hilfe drehte Haregewoin sie um und wusch sie und zog ihr saubere Sachen an und wechselte die Bettwäsche, die sie in einer verzinkten Wanne im Garten wusch. Sie fand einen gewissen Trost in dem Gedanken, dass sie auf die gleiche Art die Windeln ihrer Töchter gewaschen hatte, als
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