'Alle meine Kinder'
diese noch Babys waren. Atetegeb lebte in Erinnerungen an ihren Sohn. Während ihres unruhigen Schlafs zog sie manchmal ein Kissen an ihre Seite und hielt es wie ein Baby.
Ashiber kam nicht wieder.
Milde Eintöpfe, kräftigende Suppen, nahrhaftes Brot, Mangostücke, Melonenscheiben - all die an Babynahrung erinnernden Mahlzeiten, die Haregewoin in der kleinen Küche zubereitete und ihre Tochter liebevoll Löffel für Löffel anbot -, alles wurde zurückgewiesen.
»Es hat keinen Sinn, dass ich etwas esse, Mutter«, sagte Atetegeb traurig und drehte den Kopf weg. »Ich vertrage das Essen nicht. Es zerreißt mich, und du musst mich nur wieder sauber machen. Das will ich nicht. Ich bin müde.«
In der Küche ließ Haregewoin ihren Tränen freien Lauf, wenn sie das Essen von den Tellern kratzte. Sie schaffte es nicht, ihrer Tochter mehr als einen Teelöffel gezuckerten Tee einzuflößen.
»Mein Liebling, verzeih mir«, sagte sie weinend, als sie wieder einmal einem Taxifahrer die Tür öffnete und Atetegeb, für die es eine unmenschliche Anstrengung war, ins Krankenhaus bringen ließ.
Dieses Mal blieb sie nur eine Woche. Ärzte untersuchten sie, machten sich Notizen, sprachen draußen auf dem Flur vor der Tür zum Krankensaal miteinander. Jeder außer Haregewoin hatte den Gedanken, die Patientin retten zu können, schon seit langem aufgegeben. Sie konnte nicht anders: Jedes Mal, wenn sich ein Arzt, eine Schwester, ein Pfleger, eine Putzfrau Atetegebs Bett näherte, blickte Haregewoin mit einem Ausdruck verzweifelter Hoffnung in den Augen von ihrem Stuhl auf.
Atetegeb schlief die ganze Zeit. Haregewoin saß mit gesenktem Kopf da und prüfte von Zeit zu Zeit den schwachen Pulsschlag am Handgelenk ihrer Tochter. Ihre Tochter verließ sie. Der Hauch von Wärme, der hin und wieder Atetegebs Gesicht überzog, war für Haregewoin ungemein kostbar, obwohl sie wusste, dass er vom Fieber herrührte.
»Mutter«, sagte Atetegeb eines Morgens mit klarer Stimme und schreckte Haregewoin in ihrem Stuhl auf. »Es ist Zeit, dass ich nach Hause gehe. Kannst du mich nach Hause bringen?«
Auf Haregewoins Gesicht machte sich eine Mischung aus Hoffnung und Ungläubigkeit breit. War das Fieber gewichen?
Atetegeb lächelte, hob leicht den Arm und deutete auf das Gewirr aus Plastikschläuchen.
»Es reicht«, sagte sie. »Es reicht jetzt. Es ist an der Zeit.«
10
Woher war HIV/Aids gekommen?
Katzen, Schafe, Pferde und Kühe sind anfällig für Lentiviren, aber Affen und Schimpansen sind Träger derjenigen Untergattungen von Lentiviren, die dem Humanen Immundefizienzvirus (HIV) am ähnlichsten sind; die Forscher bezeichnen diese als Simiane Immundefizienzviren (SIV).
In den Wäldern von Guinea-Bissau, Gabun, Kamerun, Sierra Leone und Ghana in Westafrika ist ein Altweltaffe zu finden, der Rauchgraue Mangabe: lange Zähne, langer Schwanz, lange Finger, feingliedrig, helle Augenlider in einem dunklen Gesicht. Diese Mangaben waren Träger des Rauchmangaben-SIV (SIVsm, nach der englischen Bezeichnung sooty mangabey SIV), der sich als genetischer Vorläufer der schwächeren der beiden HIV-Epidemien erwies: HIV-2, das kaum jemals bei einem Menschen außerhalb von Westafrika entdeckt wurde.
In den Tropen- und Bergwäldern von Zentralafrika gibt es drei Subspezies des gewöhnlichen Schimpansen: Zwischen den Flüssen Niger und Kongo liegt der Lebensraum des Pan troglodytes troglodytes. Einige sind Träger des Schimpansen-SIV (SIVcpz), das 1999 als genetischer Vorgänger von HIV-1 identifiziert wurde, dem virulenten Humanvirus, das die Ursache der weltweiten Pandemie ist.
Aber warum und wie konnten aus einem Affen-Immunschwächevirus und einem Schimpansen-Immunschwächevirus zwei menschliche Immunschwächeviren entstehen, und das in zwei weit voneinander entfernten Gebieten Afrikas und zur gleichen Zeit?
Warum verwandelte sich das gutartige Simiane Virus, das seinen tierischen Wirt nur in etwa ein Prozent der Fälle umbringt, in ein bösartiges, ständig mutierendes menschliches Virus, das seinen Wirt in 99 Prozent der Fälle umbringt?
Zu Beantwortung dieser Fragen wurden zahlreiche Hypothesen aufgestellt, aber für keine konnte bislang ein Beweis erbracht werden.
Die erste könnte als Genozid-Theorie bezeichnet werden.
Die Afrikaner haben keine guten Erfahrungen mit der westlichen Medizin gemacht, insbesondere mit der Pharmaindustrie: Sie mussten dabei zusehen, wie ihre Länder zum Abladeplatz für unzureichend erprobte, abgelaufene
Weitere Kostenlose Bücher