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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Mutter der gleiche traurige, überraschte Ausdruck erschien. Nachts drückten sich Mekdes und Yabsira unter den Decken eng an ihre Mutter. Tagsüber plapperte Mekdes, damals vier Jahre alt, ununterbrochen auf ihre Mutter ein, damit sie wieder fröhlicher wurde. Sie erzählte ihr Neuigkeiten von den Hühnern im Hof oder von den Kindern auf der Straße. Früher hatten solche Geschichten ihre Mutter zum Lachen gebracht. Aber jetzt wurde Mulu immer stiller; auch sie war von Blasen übersät; ihre Augen quollen hervor, und die Lider bewegten sich kaum noch; ihre Stimme wurde rau. Obwohl sie erschreckend mager war, wollte sie nichts essen.
    Mekdes half ihrer Mutter, indem sie mit wichtigen Besorgungen zu den Nachbarn lief und sich um Yabsira kümmerte, der zwanzig Monate jünger als sie war. Obwohl er mehr als halb so viel wog wie sie, trug sie ihn auf der Hüfte herum, wie es zuvor ihre Mutter getan hatte. Wenn sie Yabsira fütterte, stellte sie auch ihrer Mutter einen Teller hin und nahm ihn, unberührt, wie er war, später wieder weg. Wenn es Zeit war, ins Bett zu gehen, erwiderte Mulu Mekdes’ heftige Umarmungen und Küsse kaum; sie hatte die Augen geöffnet, aber sie reagierte nicht. Dann bewegte sie sich eines Nachts überhaupt nicht mehr, und Mekdes wurde klar, dass ihre Mutter gestorben war.
    Yabsira war genauso fröhlich wie immer. Wenn er nackt aus der Hütte entwischte, liefen Mekdes und Addisu hinter ihm her, und alle drei umarmten sich und lachten. Seinen Vater hatte Yabsira schon fast vergessen und seine Mutter war bettlägerig gewesen, so lange er denken konnte. Mekdes jedoch vergaß nichts.
     
    Eines Morgens im November 2003 bemerkte Mekdes, dass ihr Großvater niedergedrückter Stimmung war. Ihre Tante Fasika, die Schwester ihres Vaters, war ebenfalls merkwürdig still. Als unerwartet ihre andere Tante, Zewdenesh, die Schwester ihrer Mutter, die Hütte betrat, freuten sich die Kinder, aber auch sie wirkte niedergeschlagen.
    Ein paar Tage zuvor hatte Fasika Mekdes die Haare zu Zöpfchen geflochten; jetzt strich Addisu Mekdes zärtlich mit der Hand über den Kopf. Er war ein dünner Mann mit einem schmalen, unrasierten Gesicht und trug einen weichen Fischerhut, ein kariertes Hemd, ausgeblichene Hosen und einen grauen Wollumhang. Mekdes trug das, worin sie geschlafen hatte - ein gestreiftes T-Shirt und gestreifte Leggings. Abgesehen von einer hellblauen Baumwollbluse waren das die einzigen Sachen, die sie besaß. Addisu bedeutete Mekdes, sie solle ihre blaue Bluse anziehen, weil es kalt sei und sie nach draußen gehen würde.
    Der Großvater tätschelte den beiden Kindern den Kopf und zog und zupfte an ihrer Kleidung herum, dann beugte er sich zu Mekdes und gab ihr einen festen Kuss auf jede Wange und senkte den Kopf noch etwas tiefer, um das Gleiche bei Yabsira zu tun, dem die Nase lief. Jede der beiden Tanten nahm ein Kind an die Hand, und die Familie trat hinaus vor die Hütte.
    Dort wartete ein älterer religiöser Führer auf sie, Haj Mohammed Jemal Abdulsebur. Er trug ein gebügeltes Khakihemd und eine Khakihose und dazu eine blaue Kappe. Die beiden alten Männer - der Kirchenmann und der Großvater - schüttelten einander die Hand auf jene respektvolle Art, bei der die linke Hand den rechten Unterarm stützt, als würde die Ehre des Handschlags schwer wiegen. Haj geleitete die beiden jungen Frauen und die Kinder zu der unbefestigten Straße. Mekdes verabschiedete sich nicht von ihrem Großvater. Sie wusste nicht, dass sie ihn verließ. Das Grüppchen ging hügelabwärts, in Richtung der gepflasterten Straße mit der Bushaltestelle.
     
    Ich war an diesem Nachmittag bei Haregewoin, umgeben von kreischenden Kindern, denen ich eine Überraschung aus Amerika mitgebracht hatte: Raketenballons! Diese Ballons sahen aus wie kleine Luftschiffe, waren schwer aufzublasen, und wenn man sie losließ, sausten sie über den Köpfen waagrecht durch die Luft und gaben dabei ein zischendes Geräusch von sich. Hin und wieder landete einer der Ballons in den Ästen eines Baums oder auf einem Dach oder traf jemandem im Rücken. Egal, wo, die Kinder bogen sich vor Lachen. Manchmal wand sich ein Ballon vor den Füßen der Kinder im Staub, während das letzte bisschen Luft aus ihm entwich. Sie quietschen und rannten aufgeregt hinter jedem Ballon her. In gespielter Angst hüpften sie auf und ab, wenn ein Ballon auf dem Boden landete und sich um ihre Knöchel schlängelte. Platzte ein Ballon, flitzten die Kinder los, um die

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