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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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wog nichts, er sagte nichts. Wenn er etwas zu essen bekam, war das ein unverhofftes Geschenk. Die Alte fütterte ihn: zweimal am Tag kaute sie gekochte Bohnen für ihn vor und schob sie ihm mit der Zunge in den Mund. Das war sein Babybrei. Bohnen waren ihrer beider einzige Nahrung. Teilnahmslos lag er in ihrem Schoß und öffnete seinen Mund. Seine trüben Augen sahen nichts. Wie eine Vogelmutter beugte sie sich über ihn und stopfte ihm die Nahrung in den offenen Schnabel. Sie hatte ihn gern. Aber sie glaubte nicht, dass er lange leben würde.
     
    Als sie eines Tages herumlief und den Straßenrand nach irgendetwas absuchte, das man essen oder für einen Birr verkaufen konnte, kam sie an Haregewoins offenem Tor vorbei und sah die Kinder im Hof. »Ist das eine Schule?«, fragte sie einen Passanten.
    »Nein, hier wohnt eine Frau, die Waisenkinder aufnimmt«, wurde ihr erklärt.
    Sie stand vor dem Tor und blickte in den Hof. Sie sah, wie sich Haregewoin pfeifend einen Weg durch die Kinderschar bahnte, so wie eine Bäuerin einen Haufen Hühner zur Seite scheuchte.
    Sie schleppte sich zu der Einfahrt und rief leise, um Haregewoins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hob Ababu vom Rücken, wagte sich ein paar Meter weiter vor und rief: »Das ist Ababu! Da ist er! Nehmen Sie ihn!« Dann setzte sie ihn auf den Boden und humpelte rasch die Straße hinunter.
    »Warten Sie! Wie heißen Sie denn?«, rief Haregewoin.
    »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, rief die alte Frau, ohne sich auch nur umzusehen.
    »Kennen Sie die Frau?«, fragte Haregewoin die Leute auf der Straße.
    »Ja. Sie wohnt in Ketchene, sie ist Enchut teshukemah , eine Holzsammlerin.«
    Haregewoin sah zu dem Kind hinab, das, ohne einen Laut von sich zu geben, zur Seite gekippt war. Als sie den Jungen hochhob, stellte sie fest, dass er leicht wie eine Feder war. Sein großer Kopf wackelte auf den mageren Schultern vor und zurück.
    »Die alte Bettlerin hat ihn nicht geküsst«, erzählte Haregewoin ihren Freunden. »Sie hat sich nicht von ihm verabschiedet. Sie hat genug von dem Jungen. Sie setzt ihn auf den Boden - zack! - einfach so, ruft: ›Das ist Ababu! Da ist er!‹ und läuft weg.
    Er hat nicht geweint. Er hat nichts gesagt und sich nicht gerührt. Er hat nicht einmal ›Mama‹ oder ›Papa‹ gerufen. Er konnte nichts sagen. Wenn man ihm zu essen gibt, merkt man, dass er lange Zeit gehungert hat.«
    Ein solches Kind zittert vor Verlangen, wenn man einen Teller mit Essen vor es stellt.
    Haregewoin kannte ein sehr nahrhaftes Rezept, um ein halb verhungertes Kind aufzupäppeln. Sie zerdrückte Bohnen und Kerne in Milch und fütterte Ababu alle paar Stunden damit, gefolgt von einem Fläschchen Kuhmilch. Nachts jammerte er erbärmlich. Sie hörte ihn, stand auf, zerdrückte die Bohnen, bereitete das Fläschchen zu und fütterte ihn zweimal pro Nacht.
    Er hat Durchfall , bemerkte sie. Er muss immer noch Hunger haben.
    »Wie haben sich alle aufgeregt, als ich Ababu zu mir nahm«, erzählte sie mir. »Jeder brüllte mich an. ›Der Junge stirbt! Warum nimmst du diesen Jungen nur auf? Gib ihn dem kebele .‹ Ich erwiderte bloß, dass Gott einen Grund hatte, ihn zu mir zu schicken, und dass ich ihn behalten würde.«
    Früher einmal hatte sie gedacht, sie könnte so etwas nie wieder tun - am Bett eines ihrer sterbenden Kinder sitzen -, aber jetzt, da es so weit war, wusste sie, dass sie es konnte. Denn die Alternative war noch schlimmer: Ababu in einem der städtischen Krankenhäuser abzugeben, die chronisch unterversorgt waren mit Geld, Pflegepersonal, Ausrüstung und Betten, würde genauso den Tod des Jungen bedeuten, allerdings wäre er dort allein und ohne Liebe.
    Das wilde Treiben in Haus und Hof - die gesunden Kinder, die überall herumflitzten und spielten, und die jungen Betreuerinnen, die überall zugange waren - umtoste Ababu wie ein Sturmwind. Er konnte nicht an dem Leben der anderen Kinder teilnehmen, er konnte es nur an sich vorbeiziehen lassen. Aber er hatte einen winzigen Funken eigenes Leben. Wenn Haregewoin ihm ein Brötchen gab, kaute er darauf herum. Wenn sie ihn hochnahm und ihn streichelte und küsste, schnurrte er.
    Ababu saß zusammengekrümmt auf einem sonnigen Fleckchen auf dem Boden, bis er von der bloßen Anstrengung, sitzen zu bleiben, völlig erschöpft war. Haregewoin trug ihn zurück in sein Bettchen, schlaff und mit glasigen Augen wie ein Stofftier lag er in ihren Armen. Als sie ihn hinlegte, streckte er im letzten Moment

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