'Alle meine Kinder'
blieb, begann sie mit unverminderter Heftigkeit wieder zu schreien und um sich zu treten. Haregewoin trat zu ihnen und ließ sich das tobende Kind geben. Mekdes wand sich und schlug um sich und weinte, und Haregewoin nahm die Schläge mit zusammengepressten Augen, abgewandtem Gesicht und starken Armen hin.
Haregewoin war so etwas gewohnt.
Als ich Haregewoin an diesem Tag verließ, stand Mekdes neben ihr, staubbedeckt, die Augen halb geschlossen, wie benommen. Ich war mit Taschen voller Spielsachen und Schulzeug für mehrere Waisenhäuser nach Äthiopien gekommen, aber die letzten Sachen hatte ich an diesem Vormittag an Haregewoins Kinder verteilt.
Ich wollte ihr unbedingt ein Geschenk geben. Ich suchte in Selamnehs Taxi herum, aber offenbar waren tatsächlich alle Spielsachen weg. Schließlich fand ich im Kofferraum eine der knapp acht Zentimeter großen, hübsch angezogenen Puppen, die McDonald’s an seine Gäste verteilte. Beschämt, dass ich nicht mehr zu bieten hatte, hielt ich sie Mekdes hin. Sie schnappte sie sich mit einer blitzschnellen Bewegung. Als die anderen Kinder einen Blick auf die Puppe werfen wollten, stieß Mekdes sie mit den Ellbogen beiseite wie eine Rugbyspielerin. Als ich ging, stand Mekdes da und starrte ausdruckslos vor sich hin. Sie hatte keine Familie mehr, aber dafür hielt sie ein Happy-Meal-Plastikspielzeug von McDonald’s in der Hand.
Ich würde sagen, es war das dürftigste Geschenk, das ich jemals jemandem überreicht hatte, hätte ich nicht kurz zuvor ein noch armseligeres gemacht.
Als die Kinder kreischend den Ballons nachgerannt waren, hatte ihnen Haj Mohammed Jemal Abdulsebur mit einem wehmütigen Lächeln dabei zugesehen. Nachdem Fasika und Zewdnesh sich auf den Heimweg gemacht hatten, war er noch einmal zurückgekommen. Er hatte mir unvermittelt auf die Schulter geklopft, zwei Finger in die Höhe gehalten und pantomimisch zwei kleine Köpfe an seiner Seite angedeutet. Ich verstand, dass er Ballons für zwei Kinder bei sich zu Hause haben wollte, vielleicht seine Enkel. Aber ich war missgünstig wegen Haregewoins Kindern, die keinen liebevollen Großvater und kein Zuhause hatten. Deshalb holte ich nur einen Ballon für ihn heraus und dachte dabei, dass sich seine Kinder den teilen könnten. Er bedankte sich mit aneinandergelegten Händen und einer Verbeugung.
Später an diesem Tag erfuhr ich, dass Haj in seinem Heimatdorf ein ärmliches Waisenhaus so ähnlich wie das von Haregewoin betrieb. Er war der Ersatzgroßvater für ungefähr achtzig größere Jungen.
Und ich hatte diesem freundlichen Mann nur einen Ballon gegeben.
25
Am Tag nach der turbulenten Ankunft von Mekdes Asnake fuhr ich mit Selamneh wieder zu Haregewoin, um das traurige kleine Mädchen zu besuchen. Zewedu war da.
»Sie bekommen keine Ausbildung, sie bekommen gar nichts«, sagte Zewedu verbittert über die Waisen im Hof. »Ihre Eltern sind gestorben, weil sie keine Medikamente hatten, die meisten Eltern hatten nicht einmal genug zu essen.«
Für Zewedu waren sein Unglück und das Äthiopiens eng miteinander verbunden.
»Die EPRDF ist seit 1995 an der Macht, und es gibt in diesem Land immer noch zwölf Millionen Menschen, die nicht mal wissen, ob sie jeden Tag zu essen haben«, sagte er. »Sie müssen sich entscheiden: Sollen wir etwas zum Frühstück essen, oder warten wir bis zum Abendessen? Das Land gehört der Regierung und einer kleinen Elite, der große Rest sind Pächter. Wir sind Bauern. Wir sind zu 60 Prozent Analphabeten. Unter diesen Umständen kann es keine Entwicklung geben.«
Zewedu hatte Dawn of Hope, eine Organisation für HIV-Positive wie ihn, gegründet, damit sich Kranke, die noch genug Kraft hatten, um Schwächere und Sterbende kümmern konnten. Von Anfang an litt die Organisation unter der hohen Sterblichkeitsrate ihrer Mitglieder. Die Leute schlossen sich Zewedu erst dann an, wenn sich ihre Krankheit nicht länger verheimlichen ließ. Die Lebenserwartung neuer Mitglieder wurde in Monaten und Wochen gemessen.
Zewedu hatte gehofft, er könnte eine Kampagne wie die der Treatment Action Campaign (TAC) in Südafrika starten, einer Organisation HIV-Positiver, die inzwischen großen Druck auf die Regierung ausübte und Behandlung und bezahlbare Medikamente forderte und gegen die in der schlecht informierten Öffentlichkeit herrschenden Tabus und Hysterie ankämpfte. Zewedu hatte in der Zeitung Berichte über Demonstrationen in Südafrika gelesen, bei denen Hunderte von Leuten
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