Alle meine Wünsche (German Edition)
ist er in der Gegenwart. Er hat keine Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Er ist in einer Gegenwart, die sechs Minuten dauert, und alle sechs Minuten geht der Zähler seiner Erinnerung wieder auf null. Alle sechs Minuten fragt er mich nach meinem Namen. Alle sechs Minuten fragt er, welches Datum wir haben. Alle sechs Minuten fragt er, wann Maman kommt.
Und dann finde ich den Satz in violetter Mädchentinte, gegen Ende meines Tagebuchs, geschrieben kurz bevor Maman auf der Straße zusammenbrach.
Ich möchte gern die Chance haben, über mein Leben zu entscheiden, ich glaube, das ist das größte Geschenk, das wir erhalten können.
Über sein Leben entscheiden.
Ich schließe das Tagebuch. Jetzt bin ich groß, also weine ich nicht. Ich bin siebenundvierzig, habe einen treuen, netten, nüchternen Mann, zwei große Kinder und eine kleine Seele, die mir manchmal fehlt; ich habe einen Laden, der uns, mal mehr, mal weniger, zusammen mit Jos Gehalt genug für ein schönes Leben mit angenehmen Ferien in Villeneuve-Loubet einbringt und, warum nicht, vielleicht eines Tages erlauben wird, seinen Autotraum zu verwirklichen (ich habe einen Gebrauchtwagen für 36000 Euro gesehen, der mir sehr gut vorkam). Ich schreibe ein Blog, das der Mutter einer Journalistin des Observateur de l’Arrageois und wahrscheinlich tausendeinhundertneunundneunzig anderen Damen jeden Tag Freude schenkt; angesichts der vielen Besucher hat mir der Provider kürzlich vorgeschlagen, Werbung zu schalten.
Jo macht mich glücklich, und ich hatte nie Lust auf einen anderen Mann als ihn, aber zu sagen, ich hätte über mein Leben entschieden – das nicht.
Auf dem Rückweg zum Laden gehe ich über die Place des Héros, als plötzlich jemand meinen Namen ruft. Es sind die Zwillinge. Sie trinken Kaffee und füllen ihre Lottoscheine aus. Spiel doch einmal, bettelt Françoise. Du willst doch nicht für den Rest deines Lebens Kurzwarenhändlerin bleiben.
Ich mag meinen Laden gern, sage ich.
Hast du nicht Lust auf etwas anderes?, bedrängt mich Danièle. Komm schon, bitte!
Also gehe ich zum Kiosk und bitte um einen Schein.
Welchen?
Wie, welchen?
Loto oder Euro Millions ?
Ich habe keine Ahnung.
Dann nehmen Sie Euro Millions , da gibt es am Freitag einen ordentlichen Jackpot.
Ich gebe ihm die zwei Euro, die er verlangt. Die Maschine wählt die Zahlen und die Sterne für mich aus, dann reicht er mir meinen Schein. Die Zwillinge applaudieren.
Endlich! Endlich wird unsere kleine Jo heute Nacht etwas Schönes träumen.
I ch habe gar nicht geträumt und sehr schlecht geschlafen.
Jo war die ganze Nacht krank. Durchfall. Erbrechen. Seit einigen Tagen klagt er, der niemals klagt, über Gliederschmerzen. Er zittert ständig – bestimmt nicht wegen meiner kühlen Hand auf seiner heißen Stirn oder meiner Massagen auf seiner Brust, um den Husten zu lindern, auch nicht, weil ich Mamans Kinderlieder summe, um ihn zu beruhigen.
Der Arzt war da.
Das ist wahrscheinlich die H1N1-Grippe, diese tödliche Seuche. Dabei halten sie in der Fabrik alle Sicherheitsmaßnahmen ein. FFP2-Mundmaske, Desinfektionsgel, regelmäßige Belüftung der Werkhallen, Verbot, sich die Hand zu schütteln, sich zu küssen, zu ficken, hatte Jo vor zwei Tagen lachend hinzugefügt, bevor es ihn traf. Doktor Caron hat ihm Oseltamivir (das berühmte Tamiflu) und viel Ruhe verschrieben. Das macht achtundzwanzig Euro, Madame Guerbette. Jo ist am Morgen eingeschlafen. Und obwohl er keinen Appetit hat, habe ich bei François Thierry seine Lieblingsbuttercroissants geholt und ihm eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Nachttisch gestellt, für den Fall, dass. Ich habe ihm eine Weile beim Schlafen zugesehen. Er atmete laut. Schweißperlen rannen von seinen Schläfen über seine Wangen und versickerten lautlos auf seiner Brust. Ich sah neue Falten auf seiner Stirn, winzige Fältchen um den Mund, wie winziges Gestrüpp, seine Haut, die am Hals schlaff zu werden beginnt, da, wo er sich am Anfang so gern von mir küssen ließ. Ich sah die Jahre auf seinem Gesicht, ich sah die Zeit, die uns von unseren Träumen entfernt und uns der Stille näherbringt. Und ich fand ihn schön, meinen Jo, in seinem Schlaf eines kranken Kindes, und ich mochte meine Lüge. Ich dachte, wenn der schönste Mann der Welt, der netteste, der allerbeste auftauchen würde, jetzt, in diesem Moment, würde ich nicht aufstehen, würde ich ihm nicht folgen, würde ich ihn nicht mal anlächeln.
Ich würde dableiben, weil Jo mich braucht
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