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Alle muessen sterben

Alle muessen sterben

Titel: Alle muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B. C. Schiller
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das hat ja ewig gedauert!“, beschwerte sich Jimmy, der sich mit seinen schmutzigen Sneakern am Armaturenbrett abstützte und die Scheibenwischer ständig an- und abdrehte. Jimmy sah zurzeit aus wie eine junge und weniger verlebte Ausgabe von Tony Braun: Er hatte schwarze halblange Haare und die gleichen braunen Augen. Eines davon war allerdings im Augenblick zugeschwollen und schillerte in allen nur erdenklichen Farben.
    „Was ist mit deinem Auge passiert?“ Braun flippte beinahe aus, als er seinen Sohn genauer betrachtete, der ihn jetzt auch noch provokant anstarrte. Als er Jimmy von unterwegs aufgegabelt hatte, war ihm die Verletzung überhaupt nicht aufgefallen, denn der Junge hatte trotz Regen und Sturm eine verspiegelte Sonnenbrille aufgehabt. „Hast du dich geprügelt?“, schrie er und schüttelte Jimmy an den Schultern.
    „Krieg dich wieder ein, Tony!“ Unentwegt drehte Jimmy an dem Scheibenwischer herum und schnaufte genervt. „Ich besuche doch den Kickbox-Unterricht im Schulsportzentrum. Da ist mir das eben passiert.“
    „Ihr boxt dort ohne Kopfschutz?“ Braun schüttelte fassungslos den Kopf. „Mit einem richtigen Kopfschutz wäre das auch nicht passiert“, sagte er und deutete auf den Bluterguss an Jimmys Kinn. „Die können was erleben“, murmelte er und klopfte Jimmy auf die Finger, als dieser wieder den Scheibenwischer ausschalten wollte.
    Der Junge presste die Lippen zusammen und steckte sich die Ohrstöpsel seines MP3-Players in die Ohren.
    „Finde es ja toll, dass du mich zu Großmutter bringst“, nuschelte er noch, drückte auf die Play-Taste und setzte wieder seine verspiegelte Sonnenbrille auf.

    Die Schrebergartensiedlung hatte überhaupt nichts von der putzigen Idylle, die man eigentlich erwartete, denn sie befand sich zwischen einer lokalen Eisenbahntrasse und einem elektrischen Umspannwerk. Die wie riesige Spinnen wirkenden metallenen Strommasten ragten zu beiden Seiten der Schrebergartensiedlung in die Höhe und die armdicken Starkstromleitungen, die direkt über die niedlichen Häuschen führten, surrten unentwegt und luden alles in ihrer näheren Umgebung elektrisch auf.
    Wenn man das von Kletterrosen eingerahmte Gartentor mit der verschnörkelten Inschrift „Gartenfreunde 1887“ öffnete und den schnurgeraden Weg entlangging, der links und rechts von akkurat geschnittenen Hecken flankiert war, gelangte man nach ungefähr hundert Metern zu einem winzigen Häuschen mit rotem Dach, in dessen Garten anstelle der allgegenwärtigen Gartenzwerge mehrere Glaspyramiden standen. Stand man vor der ebenfalls rot gestrichenen Tür, so hatte man nach dem Klopfen ein wenig Zeit, das Türschild zu studieren. „Madame Diodata“ war in verschnörkelten Buchstaben zu lesen und anstelle des i-Punktes war eine Pyramide gemalt.
    „Madame Diodata! Was ist das bloß für eine Scheiße“, murmelte Tony Braun, als er vor der rot gestrichenen Tür des Gartenhauses stand, und musste sich schwer beherrschen, nicht das Namensschild einfach herunterzureißen und auf den schnurgerade angelegten Weg zu werfen. Natürlich wusste er, dass sich seine Mutter ihre karge Pension mit Kartenlegen aufbesserte, aber dass sie damit ein professionelles Gewerbe betrieb, hatte er nicht erwartet.
    Eine komplette Scheiße das Ganze und das werde ich ihr auch mitten ins Gesicht sagen.
    Doch dann dachte er an Jimmy, der mit den Händen in den Taschen seiner Jeans auf dem Gartenweg stand und kopfschüttelnd die bunten Pyramiden anstarrte. Nein, vor Jimmy durfte er nicht wieder ausflippen, nahm er sich vor, und atmete tief durch, ehe er die Klingel drückte.
    Als sich die rote Eingangstür öffnete, erkannte er die Frau zunächst nicht wieder. Seine Mutter Renate hatte sich in eine komplett andere Person verwandelt. Nichts war mehr übrig von der biederen Hausfrau mit der langweiligen Dauerwelle und den zu vielen Kilos an Körpergewicht, die vor zwanzig Jahren so korrekt und rechtschaffen seinen Vater in den Tod getrieben hatte.
    Jetzt stand eine dürre, alte Frau vor ihm, deren faltiges Gesicht durch die seitlich herabhängenden pechschwarzen Haare noch älter wirkte. Schlimmer aber war, dass sie eine unangenehme Aura verströmte und ihm zur Begrüßung den Rauch ihrer Zigarette ins Gesicht blies.
    „Anton, mein Junge“, sagte sie mit einer Stimme, die ihn an eine Eishöhle mit klirrend zu Boden fallenden Eiszapfen erinnerte. „Du bist alt geworden!“
    Quälend lange betrachtete seine Mutter ihn ungeniert von

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