Alle muessen sterben
nachlässig gewesen, so wie damals, als sie mit dem Stationsarzt, der Nachtdienst gehabt hatte, das neue Computerspiel ausprobierte.
Das ist so gar nicht Brauns Art, dachte sie. Oder ist es ihm zu dumm geworden, weil er mich nicht besuchen darf, redete sie laut zu sich selbst in die Nacht hinaus. Um sich abzulenken, suchte sie auf ihrem Laptop einen TV-Stream und landete bei einem Newssender, der 24 Stunden lang Nachrichten aus Österreich brachte. Während der Laptop die Streamdaten herunterrechnete, sah sie im Licht der Tischlampe das Spiegelbild ihres Gesicht im Fenster, das aus dieser Perspektive eher einer Fratze mit zerlaufenden Konturen glich, und spontan machte sie ein Foto davon für ihr Projekt „Kim of Destruction“.
Im Aufstehen warf sie einen beiläufigen Blick auf den Bildschirm, sie sah nur ein brennendes Auto und einen Newsticker darunter: „Bombenattentat auf Linzer Polizeiinspektor“. Kim schaltete den Ton auf laut, aber es war nur Konservenmusik, mit der die Bilder des brennenden Fahrzeugs untermalt wurden. Der gleichgültig durch das Bild laufende Newsticker brachte immer dieselbe Nachricht: „Bombenattentat auf Linzer Polizeiinspektor“.
Endlich trat eine verschlafene Reporterin vor die Kamera und versuchte eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse von einem Zettel abzulesen. Der Text war kurz, vage und ungenau, aber für Kim reichte die Information, dass der explodierte Wagen dem Chef der Mordkommission, Tony Braun, gehörte und dieser wahrscheinlich beim Einsteigen in seinen Range Rover von einer Autobombe schwer verletzt oder getötet worden war. Im Augenblick hatte die Polizei zwar eine Nachrichtensperre verhängt, aber ein Studiotechniker des Webradios „Wahre Werte“ hatte gesehen, wie Chefinspektor Braun zu seinem Auto gegangen war.
„Braun, du Arschloch“, flüsterte Kim und konnte ihren Blick nicht von dem brennenden Wagen lösen. „Du verdammter Mistkerl, du hast mich nicht mehr ins Kino eingeladen!“
Mehr brachte sie nicht hervor, dann verschwammen die Bilder vor ihren Augen und sie hörte nur noch das hektische Geschwafel der Reporterin, die über mögliche Hintergründe spekulierte, aber im Grund keine Ahnung hatte.
Wie ferngesteuert tappte Kim in ihr Badezimmer, packte ihre Toilettenartikel zusammen, verharrte mitten in dieser Tätigkeit und leerte dann alles wieder auf den gekachelten Boden des Badezimmers. Sie setzte sich mitten zwischen ihre Kosmetikartikel auf den Boden, zog ihren Rucksack zu sich heran und füllte ihn mit allen Jägermeister-Fläschchen, die sie in ihrem Badezimmer versteckt hatte. Ganz langsam zog sie sich dann am Waschbecken in die Höhe, riss sich das bunte Tuch von Kopf und fuhr mit ihren Handflächen über die stoppeligen aschblonden Haare. Früher war sie immer so stolz gewesen auf ihre dicken blonden Haare, die so gut zu ihren schweren Lidern und den grünen Katzenaugen gepasst hatten, dieses Aussehen würde sie wohl nie mehr zurückerlangen. Ohne nachzudenken griff sie in den Toilettenschrank, zog die verdrückte blonde Perücke hervor und stülpte sie mit zittrigen Fingern über ihren Kopf. Als sie den blutroten Lippenstift auftragen wollte, zitterten ihre Finger so heftig, dass ihr Mund aussah, als hätte sie jemandem die Schlagader aufgebissen und das Blut getrunken. Mit mehreren Taschentüchern wischte sie über ihren Mund, wischte und wischte immer heftiger, bis ihr schließlich wieder die Tränen in die Augen schossen und sie nach draußen in ihr Zimmer stolperte.
„Braun, du verdammter Scheißkerl. Du hast dich nicht einmal von mir verabschiedet.“ Sie lachte hysterisch auf und der Schmerz drang bis in ihr Herz, das so stark pochte, dass sie glaubte zu sterben.
Sie kauerte am Boden unter dem Tisch, auf dem noch immer der Laptop stand, auf dessen Bildschirm noch immer der brennende Geländewagen zu sehen war.
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was du gestern zu mir gesagt hast. Haben wir uns tatsächlich für einen Kinobesuch verabredet oder bilde ich mir das bloß ein?“, stieß sie hervor und wurde von einem Heulkrampf geschüttelt.
„Welchen Film wollten wir uns ansehen?“
Auch Samsa war ganz aufgeregt, rotierte in ihrem Schädel vor und zurück, kratzte und pochte und das schon lange nicht mehr gespürte „weiße Rauschen“ kehrte zurück und stülpte sich über ihren Blick, über die Traurigkeit, den Verlust und das Sterben.
Noch einmal schaffte sie es, einen Jägermeister zu kippen, dann noch einen und
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