Alle Tage: Roman (German Edition)
doch Tränen unter meinen geschlossenen Lidern hervor. Vor dreizehn Jahren ist ein Weinen in mir stecken geblieben. Jetzt ist es, als würde es alles aus mir herausspülen. Friede, Friede, Friede, Friede.
Jetzt: nur noch Warten. In embryonaler Bange. Soll ich dir eine Geschichte erzählen, eine letzte, damit du schlafen oder erwachen kannst?
Diese Stimme kenne ich. Sie gehört meinem Sohn. Der Wunsch, ihn zu sehen, ist stärker als Scham und Angst. Aber noch halte ich die Augen geschlossen. Ich will ihn nicht verschrecken.
Ja, sage ich ganz leise, ja.
Die Geschichte heißt: Die drei Versuchungen des Ilia B.
Ilia B. war ein frommer Junge, von Geburt an hatte er keinen anderen Gedanken als Gott. Er nahm sein Leben nur in der Beziehung zu Gott wahr, betrachtete einzig und allein Ihn, seine Geschöpfe aber nahm er nicht wahr. Er liebte weder die Himmelskörper noch die Erde, noch die Lebewesen, die sie bevölkerten, andere Menschen existierten nicht für ihn. Kurz: Ilia B. war ein kalter Bastard von einem liebesunfähigen Egoisten. Die natürliche und historische Katastrophe, die über sein Heimatland hereinbrach, tangierte ihn allgemein, aber nicht speziell. Der Gottsucher hat kein Heimatland. Allein das Wohnen im göttlichen Haus ist von Bedeutung.
Später wurde er Arzt. Als Mitglied einer religiösen Hilfsorganisation wurde er in Gebieten natürlicher und historischer Katastrophen gesehen, wo er vereiterte Finger aufstach, Kaiserschnitte ohne Betäubung durchführte und Lungenentzündungen mit Aspirin zu heilen versuchte. Eines Tages wurde die Zelle seiner Organisation unter dem Vorwurf der Missionierung verhaftet. Eine Nonne wurde zu Tode vergewaltigt und Ilia B. zu Füßen geworfen, doch auch er konnte sie nicht mehr zum Leben erwecken. Einem Priester wurde die Zunge abgeschnitten. Er musste ihn knebeln, um ihn am Leben zu erhalten. Er hatte sich gegen das Messer gewehrt, auf seinem Kinn und seinem Hals waren Schnittwunden. Dr. B. stillte die Blutung mit Spinnweben und Kalk. Nach Wochen der Gefangenschaft, in der die noch lebenden Mitglieder der Organisation täglich beteten, ohne allerdings ein äußeres Anzeichen davon zu geben, sonst hätte ihnen der Tod gedroht, wurden sie freigelassen und kehrten in ihre Heimat zurück. Sie wurden gründlich untersucht und sowohl körperlich als auch sonst für gesund befunden.
Einige Zeit später wurde Ilia B. von Freunden seiner Verlobten zu einer Party eingeladen. Dutzende Menschen, Frauen, Männer, sprachen ihm ihr Mitgefühl für das Erlittene und ihre Bewunderung für seine Tapferkeit aus. Er gab höflich und knapp Antwort. Was er gedacht habe. Ob er Todesangst gehabt habe. Was er gefühlt habe, als der Körper der Nonne vor seinen Füßen und der Kopf des Priesters in seinem Schoß gelegen habe. Nichts. Nein. Nichts, nichts. Er hatte die ganze Zeit nichts gefühlt oder gedacht. Er hatte keine Angst um sein Leben. Er betete. Herr, der du im Himmel bist. Ich bin nicht würdig, dass du einkehrst unter mein Dach, doch sag nur ein Wort. Als Nächstes wollte er eine Assistenzstelle antreten, heiraten, bald war Nachwuchs geplant.
Auf dem Nachhauseweg von dieser Party, in der letzten Nacht seines Lebens, waren keine Taxis zu bekommen. Ilia B. und seine Verlobte schlenderten Arm in Arm durch die Straßen, um vielleicht auf gut Glück ein Taxi zu erwischen. Sie erwischten mit Glück ein Taxi. Später allerdings kam es zum Streit mit dem Fahrer. I.B.s Verlobte behauptete zu Recht, der Fahrer hätte absichtlich einen Umweg gefahren, woraufhin er sie in einer dunklen, abgelegenen Straße aussetzte. Die Verlobte trat, ganz untypisch für sie, aber sie hatte an diesem Abend einiges getrunken, gegen den startenden Wagen. Der Wagen hielt, der Fahrer stieg aus, trat zur jungen Frau, stach ihr mit einem Messer in den Bauch, stieg wieder ein und fuhr davon. Ilia B. hielt mit einer Hand die verletzte Ader im Bauch seiner Verlobten zu, mit der anderen Hand alarmierte er die Rettung. Er fuhr mit ihr ins Krankenhaus, wo sie sofort operiert wurde. Ihm bot man an, er könne im Krankenhaus etwas schlafen, aber er sagte, er ginge lieber nach Hause und komme später wieder. Als er sich nach zwei Tagen immer noch nicht gemeldet hatte, beauftragte die Verlobte ihre Mutter, nach ihm zu sehen. Man fand ihn im Bett liegend. Er war noch in derselben Nacht im Schlaf gestorben. Wenige Stunden nach Eintritt des Todes setzten Fliegen ihre Eier in seine Augenwinkel.
Ja, sage ich, so leise es geht. So
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