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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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unzweideutig für ein raues Pflaster. Ich sah sogar ein mit einer dicken Kette ans Balkongitter angeschlossenes Fahrrad im vierten Stock. Was für ein Moloch musste das sein, in dem die Fahrraddiebe bei Nacht wie die Eidechsen Fassaden erkletterten und sich mit ihrer Beute auf dem Rücken abseilten. In meiner kleinen Heimatstadt schloss ich, wenn ich zum Training fuhr und das Rad vor der Schwimmhalle abstellte, gar nicht ab. Ich hatte nicht einmal ein Fahrradschloss. Ach, klingt das schön! Oh du liebliche, verklärte, geduckte Heimatstadt am Meer!
    Der behaarte Bullensack war voller Ein- und Zweimarkstücke. Ich hatte sie gespart. Insgesamt waren es einhundertvierundfünfzig Mark. Zweimal die Woche gab ich Kindern Schwimmunterricht und in kürzester Zeit hatte ich mir den Ruf erworben, auch den Wasserscheuesten zum Seepferdchen zu verhelfen. Ohne Übertreibung kann ich behaupten, den Schwimmunterricht in meiner Stammschwimmhalle revolutioniert zu haben. Nie zuvor war ein Schwimmlehrer zu den Kindern ins Wasser gestiegen. Lustlos zogen die Bademeister in kurzen weißen Hosen und Poloshirts die Kinder vom Beckenrand aus an langen Holzstangen durch das Wasser und sahen dabei aus wie hartherzige Krankenpfleger. Die Kinder krallten sich an diese Stangen, heulten und versuchten, an ihnen hinaufzuhangeln. Ich hatte das während meines Schwimmtrainings oft beobachtet. Bei der Seepferdchenprüfung mussten die Kinder eine Bahn schwimmen, vom Einmeterbrett springen und zu einem Ring hinabtauchen. Ich habe selbst gesehen, wie Kinder erst fünfundzwanzig Meter lang wie Ertrinkende nach der Stange schnappten, die ihnen der Bademeister immer ganz knapp vor den greifenden Fingerchen wegzog, wie sie anschließend vom Sprungbrett geschubst und schließlich mit einer Hand untergetunkt wurden, bis sie den Ring am Grund endlich hatten. Doch waren die Eltern hochzufrieden und bedankten sich sogar beim Bademeister dafür, dass ihr Kind fast abgesoffen, geschubst und ertränkt worden war, und das frierende, heulende und vor Angst schlotternde Kind bekam sein Seepferdchen mit den Worten »Freust du dich denn gar nicht?« überreicht.
    Diese Bademeister hielten sich für fortschrittlich. Ich dagegen war mit den Kindern im Wasser, umfasste ihre Knöchel und übte so die Schwimmbewegung. Ich erfand Spiele, bei denen sie immer weitere kleine Strecken schwammen, ohne es zu merken. Nach nur drei oder vier Monaten versammelten sich in meinem Schwimmtraining lauter wasserscheue, ja wasserhysterische Härtefälle. Blasse Mädchen, die schon schreiend aus der Dusche kamen und vor Wassertropfen so viel Angst hatten wie vor Salzsäure. Jungen mit zusammengekniffenen blauen Lippen, die beim Schwimmen den Kopf weit aus dem Wasser streckten und zu atmen vergaßen. Ich verbannte die Holzstangen, legte ihnen meine Hände unter die Bäuche und kam mir vor wie ein Heilsbringer, der seine frohe Botschaft verkündet: »Wenn ihr eure Angst fahren lasst, eure Arme so bewegt, wie ich es euch gelehrt habe, wird das Wasser euch tragen. Vertraut dem nassen Element! Es ist euch wohlgesonnen!«
    Die Bademeister sahen mir angewidert zu, und einer sagte: »Mich hat mein Vater einfach ins Wasser geschmissen. Zack, konnte ich schwimmen!« Doch der Erfolg gab mir recht. Bis zu zehn Wasserphobiker, hoffnungslose Fälle, die aus allen Schwimmkursen der Stadt zu mir geflüchtet waren, schwammen hinter mir her, als wären sie Entlein und ich Konrad Lorenz. Ich vorneweg: der Gott der Wasserscheuen. Sie liebten mich und es machte mich so stolz, wenn die Eltern ihre Kinder nicht wiederzuerkennen glaubten. Eben hatten sie noch um sich getreten wie auf dem Weg zum Schafott und mit weit aufgerissenen Augen ins Styropor-Schwimmbrett gebissen, als würde sie der Teufel in die nasse Hölle zerren wollen. Am Ende der Stunde sprangen sie mit Anlauf vom Beckenrand und machten jauchzend eine Arschbombe.
    Noch fünf Minuten bis Hamburg-Altona. Die Reisenden verließen schon ihre Abteile und drängten sich in den Gang. Waren es überhaupt Reisende? Das Gegenteil wird wohl eher der Fall gewesen sein. Das traurige Gegenteil vom Reisenden ist der sogenannte Pendler, dachte ich. Was bin ich von beidem, bin ich Reisender oder Pendler? Ich sah aus dem Fenster und erinnerte mich an Ole. Ole in der Leopardenbadehose. Ole, der immer von blauen Flecken übersät war, da sein einer Fuß leicht verkrüppelt war und er deswegen oft stürzte. Ole war sechs oder sieben Jahre alt und vollkommen lethargisch,

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