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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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unter den wuscheligen blonden Locken ein ovales, dicklippiges Kindergesicht. Sobald ich nicht daran dachte, meinen Mund geschlossen zu halten, öffneten sich meine Lippen, und ich sah aus wie ein unterbelichteter Karpfen. Besonders mein Blick gefiel mir nicht. Ein leicht dümmliches Erstauntsein vermochte ich daraus einfach nicht zu verbannen. Ich wollte endlich lernen, so zu gucken, als hätte ich ein Geheimnis, und nicht, als wäre mir die Welt eines. So, als wäre ich voller Rätsel und nicht die Welt ein riesengroßes.
    Und ich hatte noch ein Problem: Ich mochte keinerlei alkoholische Getränke und war dadurch von der Mehrzahl pubertärer Initiationsriten von vornherein ausgeschlossen. Bier, Wein, Schnaps – fand ich alles ekelhaft. Ich mochte Milch und Saft. Das war auf jeder Party meine heimliche Hauptbeschäftigung: Bierflaschen ins Klo oder vom Balkon zu gießen, Cola-Bacardi-Gläser unauffällig im Regal abzustellen und betrunken zu spielen. Ich war voller aufkeimender, mich umtreibender, wilder Sehnsüchte, hatte aber die Zunge eines Grundschülers.
    Während ich die schmiedeeiserne Treppe hinaufstieg, streiften mich die Blicke der Sitzenden. Warum, dachte ich, glotzen die mich denn alle so blöd an? Stimmt irgendetwas nicht? Bin ich hier falsch? Ich wählte einen Platz ganz oben, mit dem Rücken an der Hauswand, und setzte mich. Schlagartig war ich völlig verunsichert. Verunsichert und unglaublich wütend.
    Ich möchte an dieser Stelle kurz etwas klarstellen: Ich war kein verschreckter, armer Außenseiter, der von seinen Mitschülern gequält, mit dem Hintern in den Mülleimer gestopft und aufs Lehrerpult gehievt wurde. Eher sogar umgekehrt. Ich gehörte oft zu den Quälgeistern. Was ich von meinen Brüdern einstecken musste, teilte ich in der Schule wieder aus. Ich hatte Freunde, einen liebevollen Vater, eine liebevolle Mutter und zwei geliebte Brüder, die mich bis aufs Blut quälten. Und ich hatte sogar eine Freundin, die ich aufregend fand und mit der sich gerade Dinge entwickelten, die mir sehr gefielen. Alles in allem war ich ein zufriedener und behüteter Siebzehnjähriger. Ein Siebzehnjähriger mit miserablen Schulnoten und großer Sportleidenschaft. Und doch war etwas vorgefallen. Es hatte mit meinen mich immer wieder heimsuchenden Zornattacken zu tun. Der Grund für diese Zornanfälle lag viel tiefer als die meist profanen Anlässe, die sie auslösten. Mit hübscher Regelmäßigkeit ergriff mich ein rasender, roter Furor, der mir selbst das größte Rätsel war. Ich konnte in diesen Abgrund nicht hineinsehen. Ich wusste nicht einmal, wo der Weg begann, der zur Klippe dieses Abgrunds führte. Ich hasste meinen Zorn. Er machte mich zornig. Er kam mir vor wie eine Krankheit. Ein Anfallsleiden, das mich erniedrigte und entmündigte. Doch niemand, ich selbst nicht und auch sonst niemand, fand den Krankheitsherd, den Zornherd. Das war mir oft unheimlich. Dass es da einen allzeit zur Explosion bereiten bollernden Ofen in mir gab, der sich mit mir selbst vollkommen im Dunkeln liegenden Kränkungen befeuerte. Meine Brüder nannten mich: die blonde Bombe! Sie wussten, wie man mich zündete! Und sie taten es gerne.
    Bis auf diese rätselhafte Disposition für Totalausraster war aber alles vollkommen normal, ja, durchschnittlich an mir. Ich war kein norddeutscher Nerd, kein Einzelgänger mit fettigen Haaren, Pickeln und Bremsstreifen in der Unterhose, der tief im Wald mit einem gestohlenen Luftgewehr Eichhörnchen abknallt. Ich war kein Opfer, das missverstanden und gedemütigt versuchte, nach Amerika zu entkommen. All das war ich eben nicht! Und doch wollte und musste ich unbedingt weg!
    Um zwölf versammelten sich alle jungen Männer und jungen Frauen, alle Jungen und Mädchen, alle Jugendlichen, vierzig waren es bestimmt, in einem hohen Raum, dessen Zimmerdecke voller Stuck war, überreich mit Gipsgeschwüren verziert. Das Erste, was mir auffiel, noch bevor wir begrüßt wurden, war ein leichter Duft von Aftershave, der in der Luft hing und den ich deutlich roch, obwohl die Fenster geöffnet waren und von der Alster her, über die man eine wundervolle Sicht hatte, kühle Luft hineinwehte. Ich dachte, was, hier sind welche, die rasieren sich nicht nur schon jeden Morgen, die benutzen auch Aftershave?
    »So, ich freu mich, dass ihr da seid!«, rief kichernd eine Frau um die dreißig in die Runde. »Setzt euch doch mal bitte alle hin!« Kleine Ansammlungen, die sich eben erst gebildet hatten, trennten sich

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