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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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schabte etwas vom Bahnhofsfundament in ein Plastiksäckchen. Dann schlurften sie davon. Von meinem Freund wusste ich, was sie abgeschabt hatten: Es war Kalk. Ich hatte es ihm nicht geglaubt. Seine Worte hatten mich fasziniert. Der Kalk würde zusammen mit Rauschgift und etwas Wasser in einem Löffelchen über einem Feuerzeug kurz aufgekocht. Ich ging zu den ausgekratzten Steinen. War das möglich? Dass rein rechnerisch der Hamburger Bahnhof in ferner Zukunft von Drogensüchtigen ab- und weggeschabt sein würde?
    Bei meinem Weg um den Bahnhof herum, auf dem Bahnhofsvorplatz und in den angrenzenden Straßen sah ich unzählige befremdliche, mich verwirrende Gestalten. Sie zogen mich magisch an und stießen mich doch ab. Natürlich gab es auch in dem kleinen Ort, aus dem ich vor gerade einmal zweieinhalb Stunden abgefahren war, die ein oder andere stadtbekannte gestrandete Gestalt. Gab es eine Stelle in der pittoresken Fußgängerzone, wo sich drei oder vier, bei sonnigem Wetter auch fünf oder sechs Säufer trafen. Aber verglichen mit diesen lebendigen Toten, die niemand außer mir überhaupt zu sehen schien, hatten die Kleinstadtpenner fast etwas Romantisches: Bärte, große rote Nasen, Apfelkornflaschen. Doch eine solche Anhäufung von bizarren, herumlungernden Haut-und-Knochen-Existenzen hatte ich noch nie gesehen. Vielleicht, dachte ich, sehe ich sie ja nur deshalb, weil ich sie unbedingt sehen will. Vielleicht bin ich versessen auf ihren Anblick und das Opfer meiner selektiven Wahrnehmung. Denn es gab natürlich auch jede Menge andere Leute, die an mir vorbeieilten. Der Unterschied war dennoch massiv. Die, die in Eile waren, hatten ein Ziel, bewegten sich in einem völlig anderen Tempo. Die, die ich beobachtete, lungerten herum. Es war eine Zweiklassengesellschaft der Geschwindigkeit: die einen in der Zeit, die anderen aus der Zeit gefallen. Und dass manche von ihnen so taten, als wären sie cool, als hätte ihr Leben die Aura des Abenteuerlichen, machte es noch trostloser. Allein schon, dass sie glaubten, sich verstecken zu müssen! Außer mir interessierte sich kein Mensch für sie. Diesen Rest von Heimlichkeit zelebrierten sie mit letzter Kraft.
    Ich lief eine Straße hinunter. Spritzen lagen auf dem Gehweg. Plötzlich der Blick in einen Hauseingang. Da kauerten zwei auf den Stufen, einer stand. Ich wagte nicht hinzusehen. Ging schneller weiter. Das war das Einzige, was half: Beschleunigung. Tatsächlich, je schneller ich lief, desto weniger fielen sie mir auf. Mütter mit Scheuklappen schoben ihre Kinderwagen und würdigten sie keines Blickes. Ich sah ein Mädchen mit tief liegenden, ungenau umtuschten Augen unter langen Ponyfransen, das sich bei Männern einhakte, lächelte und etwas sagte. Sie hatte den Reißverschluss ihrer grauen Sweatshirt-Jacke weit hinuntergezogen. Nichts drunter. Die Männer ignorierten sie. Einer stieß sie zur Seite. Das Mädchen pöbelte ihm hinterher: »Blöde Sau! Leck mich am Arsch, du Pisser!« Sie spuckte auf die Straße. Dann schlenderte sie an den nächsten Passanten heran, hakte sich ein, flüsterte und lächelte wieder. Eine andere Frau saß mitten auf dem Gehweg, neben ihr ein großer Hund, der bräunliche Brocken von einem Pappteller leckte. Als Halsband hatte er einen Nietengürtel. Sie umarmte den Hund, hing an ihm, hielt ihn fest umklammert. Ich hatte genug gesehen und verließ das Viertel.
    Um halb zwölf erreichte ich das prächtige Haus, in dem im dritten Stock die Austauschorganisation residierte. Zur Eingangstür hinauf führte eine breite schmiedeeiserne Treppe, auf der in der Sonne mehrere Jungen und Mädchen in meinem Alter lagerten. Waren das überhaupt noch Jungen und Mädchen? Kinder waren es ganz sicher nicht mehr. Jugendliche? Heranwachsende? Oder waren das junge Männer und junge Frauen?
    Ich selbst hatte das verwirrende Gefühl, jeden Tag bestimmt hundertmal vom Kind zum jungen Mann und mit Überschallgeschwindigkeit vom jungen Mann wieder zum Kind zurückkatapultiert zu werden. Wenn ich mich gut eingeschlossen im Badezimmer im Spiegel musterte, sprach schon einiges für einen Mann. Es sprach aber auch noch so einiges dagegen. In den letzten Monaten war ich noch einmal gewachsen, hatte endlich breitere Schultern und festere Beine bekommen, riesige Füße. Aber im Gesicht, da war für meinen Geschmack noch viel zu viel Weichheit. Nichts Markantes! Kein Grübchen im Kinn. Keine gut sichtbar malmenden Kieferknochen. Anstelle eines Charakterkopfes hatte ich

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