Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
der den Türkischen Marsch am Flügel spielte, auswendig und rasend schnell und fehlerlos, und dabei war der Knirps viel jünger als ich. Da hatte ich wohl keine Chance mehr, als klavierspielendes Wunderkind entdeckt zu werden und ins Fernsehen zu kommen. Dann brauchte ich auch nicht mehr zu üben.
Papa fuhr mit Renate morgens nach Koblenz, Wein und Torten kaufen.
Schnieke sollten wir aussehen. Hände waschen, Haare kämmen, Nägel bürsten, aber nicht bloß huschifuschi. »Dir schlamstert hinten noch das Hemd aus der Hose!«
Nach dem Kämmen musterte ich mich noch eine ganze Weile im Spiegel neben der Flurgarderobe. Die Haare hätten länger sein können, und ein paar Muckis mehr hätten nicht geschadet, aber alles in allem hätte ich keine schlechten Chancen gehabt bei der Wahl des schönsten Jungen vom Mallendarer Berg.
»Na, gefällst du dir?« fragte Mama. Sie hatte mir zugekuckt, und da hätte ich am liebsten den Spiegel zerschmissen.
Als die ersten Gäste klingelten, Onkel Walter und Tante Mechthild samt Trabanten, thronte Mama auf dem Lokus, und dann klingelte noch das Telefon.
Erst kamen alle zu uns, Onkel Rudi und Tante Hilde mit Franziska, Alexandra und Kirstin, Tante Dorothea und Onkel Jürgen, Onkel Dietrich und Tante Jutta, und als zu guter Letzt Onkel Edgar mit Tante Gertrud, Oma Schlosser und dem zarten Bodo ankutschiert kam, sollte die ganze Sippe wieder in die Autos einsteigen und zum Restaurant Humboldthöhe fahren zum Mittagessen. Da hätten wir uns gleich mit allen Mann versammeln können, aber hinterher ist man immer schlauer.
Ein Großonkel war unter den Gästen, Heinrich Schlosser, mit Haaren wie aus Zuckerwatte. Tante Gertrud war operiert worden.
Ich durfte bei Onkel Dietrich mitfahren.
In dem Restaurant standen Platzkarten auf den Tischen. Oma saß am Kopfende und ich in der Mitte zwischen Mama und Bodo und gegenüber von Renate.
Vom Fenster aus konnte man den Rhein und die Insel Niederwerth sehen, aber ich mußte mit dem Rücken zum Fenster sitzen, und aufstehen und rumrennen durfte ich nicht. Der Tisch war mit Rosengestecken geschmückt.
»Wenn du dich hier mit irgendwem in die Wolle kriegst, setzt’s was«, sagte Mama, als Bodo sich ein Schinkenröllchen von meinem Teller geklaut hatte.
Es gab auch Rinderzunge, was Renate widerlich fand. Da sei jahrelang Rindersabbel drauf rumgelaufen. Wiebke hatte sich den ganzen Teller vollgeladen, aber nach den ersten drei Bissen konnte sie schon nicht mehr. »Da waren wohl die Augen größer als der Magen«, rief Onkel Edgar von hinten.
Onkel Jürgen rechnete im Kopf den Schlankheitsgrad von allen Verwandten aus. Körperlänge geteilt durch Gewicht. Die Ergebnisse krakelte er mit Kugelschreiber auf einen Untersetzer. Wer am fettesten war. »Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute!«
Papa stand auf und hielt eine Rede über die Vergangenheit der Familie in Schirwindt und Lötzen und Marienwerder, und wir sollten alle das Glas erheben auf Oma, aber meins war schon leer.
Dann ging es bei uns im Wohnzimmer weiter mit Kirschtorte und Erdbeertorte. Papa hatte Metallklemmen für die Tischtücher beschafft.
Onkel Heinrich und Onkel Dietrich rauchten Zigarre. Tante Jutta, die ein feuerrotes Kleid anhatte, paffte Zigaretten.
Für die Stücke, die Renate und ich im Hobbyraum auf dem Klavier vorspielten, wurden wir mit Applaus überschüttet, aber beim Spielen hatten alle gequatscht.
Die beiden unordentlichen Bodenräume wurden beim Rundgang durchs Haus ausgelassen. Aus Renates Zimmer nahm Onkel Jürgen ein Pippi-Langstrumpf-Buch mit und las laut daraus vor: Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern.
Mama hatte Schnittenteller und Schüsseln mit Erdnußflips auf den Wohnzimmertisch gestellt, und Papa öffnete die Falttür, damit man auch sein Arbeitszimmer sehen konnte und die Regale mit den gebundenen Jahrgangsbänden der VDI-Zeitschrift.
Neun Leute übernachteten bei uns. Im Hobbyraum hatte Mama für alle Kinder ein Luftmatratzenlager aufgebaut und mußte noch achtmal runterkommen und mit uns schimpfen, bis Ruhe war. Die Großen lärmten oben aber noch viel länger und lauter als wir.
Nach dem Frühstück wurde lebhaft über die besten Fahrtrouten nach Dortmund und Hannover und Bielefeld diskutiert. Volker sollte den Shell-Atlas aus dem Peugeot holen, aber der Shell-Atlas war nicht da. Papa mußte selbst hingehen,
Weitere Kostenlose Bücher