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Alle Wege führen nach Rom

Alle Wege führen nach Rom

Titel: Alle Wege führen nach Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adalbert Seipolt
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erklärte Gino.
    »Und wo ist das zweite Kind?« fragte Schwester
Annaberta, nun doch böse darüber, daß von zehn angekündigten Hungerleidern nur
mehr einer übrig war.
    Gino rüttelte Palmiro wach und schrie ihm etwas
von einer Bambina ins Ohr. Der Bub blinzelte erschreckt ins grelle Licht,
zeigte mit der Hand in die hintere Ecke und rollte sich wieder in den Schlaf.
    »Palmiro sagen, Bambina liegen in Ecke«, sagte
Gino.
    »In welcher Ecke?«
    »Müssen suchen, werden finden«, tönte es
schicksalsergeben zurück.
    Schwester Annaberta wollte auffahren, doch sie
erinnerte sich noch rechtzeitig an das Wort der ehrwürdigen Mutter, arme Sünder
nicht in das Packpapier des Zorns, sondern ins Seidenpapier der christlichen
Sanftmut einzuwickeln; freilich gelang es ihr nur vorübergehend, die
überreizten Nerven einzuschläfern. Als sie schließlich in der dunkelsten Ecke
einen Säugling, etwa sechs Monate alt, entdeckte, aus den Lumpen schälte und
das kleine Körperchen ins Licht hielt — ach Gott, so verschmutzt, so abgemagert
hatte sie noch kein Kind gesehen! — , da platzte ihre Geduld und sie rief: »Was
hat denn dieses Kind für eine Rabenmutter! Wo treibt sie sich denn herum zu
nachtschlafender Zeit? Hol sie sofort her, damit ich ihr das Einmaleins der
Säuglingspflege auf die Backen schreibe! Los, hol sie doch!«
    »Sie ist in Amerika, Suora«, antwortete Gino
verzagt.
    »In Amerika? Ja, was tut sie denn in Amerika?«
    »Hat sie mir auch nicht gesagt. Sie ist fort
mitten in Nacht, mit Giacomo.«
    »Wer ist Giacomo?« begehrte sie zu wissen. Da
stieß Gino einen fürchterlichen Fluch aus und drohte mit der Faust gegen den
Himmel. Annaberta verstand.
    »Das Kind wird sterben. Sein Herzchen schlägt nur
noch matt.«
    Gino setzte sich auf einen umgestürzten Eimer,
rammte seinen Dolch in den Boden und sagte leise: »Warum soll leben die
Bambina? Wenn sie sterben, sie nichts wissen, nichts spüren. Sie sein erlöst.
Warum sie leben? In Trastevere kein gutes Leben. Wenn mich holen die Polizei — wer
wird füttern die Bambina? Palmiro alt genug, Palmiro findet Essen, Trinken.
Aber Bambina? Du wollen, Bambina sein wie ihr Mutter? Nein, du nicht wollen
das. Du gut. Doch nichts anderes möglich in Trastevere. Du verstehen? Du sein
gut, so gut; du auch nicht töten Katzen. Aber, laß sterben die Bambina! Laß
sterben die Bambina!« rief er bettelnd, und als er zu heulen begann, rannen
auch Annaberta die Tränen über die Wangen.
     
    Um diese Stunde erwachte in einem Waisenhaus
jenseits der Alpen Ehrwürden Mutter Potenzia aus unruhigem Schlaf. Ihr hatte
übel geträumt: Schwester Annabertens Gesicht war ihr begegnet, zuckend vor
Angst. Oberin Potenzia erhob sich, entzündete eine Kerze vor der
Schutzmantelmadonna und sprach ein Ave für ihre geistliche Tochter und ein Ave
für die armen Seelen.
    Um dieselbe Stunde focht Monsignore Schwiefele in
einem römischen Polizeibüro eine Windmühlenschlacht gegen die Schläfrigkeit der
Beamten aus. Sie wollten durchaus nicht einsehen, warum sie den wohlverdienten Schlummer
ihrer Leute verkürzen sollten, um eine entlaufene Nonne aufzustöbern, die bei
Tagesanbruch von selber wiederkäme.
    Um dieselbe Stunde löffelten Herr Adam Birnmoser
und Fräulein Eva Süß in einer Gelateria auf der Via Nazionale Schokoladeneis
aus kristallenen Schalen. Sie sprachen über Familienglück, natürlich durchaus
unpersönlich, wie es die Studentin liebte. Birnmoser, noch tief beeindruckt von
der Papstaudienz, meinte, er würde seinen Kronprinz Pius nennen. Fräulein Süß
meinte darauf, Adam wäre doch viel passender, und sah Herrn Birnmoser keck ins
Gesicht. Birnmoser errötete, senkte beinahe schuldbewußt den Kopf und murmelte:
»O Eva, warum durchschauen Sie mich?«
    Um dieselbe Zeit — hier in Indien war es freilich
längst heller Morgen — las Pater Toni, pardon Timotheus, den Brief seiner
Mutter, wie er Schwester Annaberta im Herzenskämmerlein titulierte. Ganz nahe
war sie ihm jetzt: ihr rundliches Gesicht, die pfiffigen Äuglein, hinter der
dicken Brille verschanzt, ihre immerroten Wangen, die Härchen zwischen Nase und
Oberlippe und die vielen, vielen Runzeln! Wenn sie wüßte, daß ein
Trockenrasierer im indischen Dschungel nur als Wandschmuck dienen kann, bekäme
sie sicher noch drei Runzeln dazu!
    Und um dieselbe Stunde verlöschte das Licht im
zweiten Fenster des obersten Stockwerks des vatikanischen Palastes. Der Heilige
Vater sprach sein Nachtgebet, empfahl die weite

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