Allein in der Wildnis
die Lebenskräfte, die wir einander geschenkt hatten. Ein paarmal schaffte ich es fast, das alte Gefühl heraufzubeschwören, aber immer dröhnte irgendwann am Himmel ein Flugzeug über mich hinweg und störte den Zauber.
Eines Abends — an einem Freitag, um genau zu sein — erwischte es uns. Wir joggten im Park durch raschelndes Laub, als Pitzi plötzlich innehielt. Vor uns sprang ein Hund, ein großer Golden Retriever, im Kreis herum, seinen eigenen Schwanz jagend. Sein Verhalten wirkte merkwürdig. Niemand begleitete den Hund. Ich begann Pitzi an der Leine fortzuziehen, aber der Retriever verfolgte uns. Binnen Sekunden war ein wüster Hundekampf im Gange. Zum erstenmal in seinem Leben zog Pitzi den kürzeren. Im Nu lag er auf der Erde, Fänge gruben sich in seine Kehle. Im düsteren, von den Wolken reflektierten Widerschein der Stadtlichter sah ich den fremden Hund an Pitzis Hals reißen und zerren.
Ich sprang vor, warf mich auf das Tier und versuchte, es von Pitzi herunterzuzerren. Wie toll warf sich der Hund herum und grub seine Zähne tief in meinen linken Wadenmuskel. In der sekundenlangen Pause rollte sich Pitzi auf die Füße und fing an, dem Retriever zuzusetzen. Nach fünf Minuten war der Kampf vorbei. Der goldhaarige Hund rannte über die nahe Straße davon, die Ohren zerrissen und blutig. Pitzi war es nicht besser ergangen. Auch seine Ohren waren zerschlitzt, eine Pfote schlimm zerbissen. Zusammen humpelten wir aus dem Park.
Von Minute zu Minute wurden der Schmerz und die Schwellung an meinem Bein stärker. Als wir zu Hause ankamen, konnte ich kaum noch gehen. Sallys Hausapotheke enthielt zu meiner Überraschung nur Erkältungsmittelchen, Hustenbonbons, Nasensprays und Aspirin. Offenbar war man in der Stadt nur auf Grippe eingerichtet, nicht aber auf Hundebisse und plötzliche Verletzungen.
Da ich keine Ärzte kannte, mußte ich die Notfallstation der Georgetown-Universitätsklinik aufsuchen. Nach stundenlangem Warten in Gesellschaft von Blinddarmkranken, Messeropfern, verstauchten Knöcheln und verdorbenen Mägen wurde mein Bein von der diensttuenden Ärztin in Augenschein genommen. Ich erzählte ihr, was geschehen war. Sie wurde besorgt und fragte mich nach dem streunenden Hund aus.
»Aufgrund seines unerklärten Verhaltens und seiner Aggressivität«, meinte sie schließlich, »würde ich Ihnen empfehlen, sich binnen achtundvierzig Stunden gegen Tollwut impfen zu lassen; es sei denn, Sie finden den Hund.«
Ich krümmte mich auf dem Untersuchungstisch.
»Washington hat strikte Gesetze über das Anleinen von Hunden«, fuhr sie fort. »Der Hund hätte niemals frei herumlaufen dürfen. Man kann nicht wissen, ob er krank war oder gesund, und Tollwut ist bei Menschen hundertprozentig tödlich«, fügte sie hinzu, als sie mir die letzte Bandagenrolle anlegte.
Ich verließ die Notfallstation auf Krücken, da ich das Bein wegen des Blutergusses, der die Wade unförmig hatte anschwellen lassen, nicht mehr benutzen konnte. Jetzt wußte ich, wie wirksam das Durchbeißen der Sehnen ist, das Raubtiere bei ihren Beutetieren praktizieren. Solchermaßen verletzt, kann kein Tier mehr die Flucht ergreifen. Pitzi schaute »hundeelend« drein, als ich zum Wagen zurückkam. Wir fuhren heim. Er fühlte sich nicht besser als ich, hatte aber anscheinend nicht so schwere Blessuren, daß wir zum Tierarzt mußten. Es war nur zu hoffen, daß sich die Wunden nicht entzündeten.
Jetzt kam mir die ganze Unpersönlichkeit der Stadt zu Bewußtsein. Abgesehen von Sally und Loren und meinen Mitarbeitern und Kollegen im Büro kannte ich in Washington keine Menschenseele. Keinen engen Freund gab es, den ich hätte holen und der mir hätte helfen können, einen streunenden Hund zu finden und mir eine Reihe schmerzhafter Spritzen zu ersparen. Die Polizei war benachrichtigt worden, aber es bestand wenig Aussicht, daß sie kommen und den Park nach einem Golden Retriever absuchen würde, denn sie hatte ja die üblichen Wochenendprobleme einer Großstadt auf dem Hals.
Wäre dies am Black Bear Lake geschehen, hätte ich die örtliche Polizeiwache, Beamte der Umweltbehörde, den ärztlichen Notdienst, die freiwillige Feuerwehr und meine Freunde alarmieren können, und alle hätten sich Mühe gegeben, den Hund aufzustöbern. Ich kam mir gottverlassen vor.
Am nächsten Morgen humpelte ich mit Mühe und Not zum Nachbarhaus. Ich mußte jemanden finden, der suchte, mir Lebensmittel einkaufte, den Hund ausführte. Ich klopfte. Ein
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