Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
links der Potala und rechts der Oriental Pearl Tower in Shanghai. Das ist interessant, weil der Fernsehturm genau am östlichen Eingang zum Bund-Sightseeing-Tunnel steht. Ich habe also meine Reise instinktiv am richtigen Punkt begonnen. «Nicht ganz», korrigiert mich Sebastian. «Hier steht, dass die Kilometerzählung am Platz des Volkes in Shanghai beginnt.» Nun gut, das ist letztlich auch egal. Ich habe ja an der Grenze von Anhui zu Hubei herausgefunden, dass die Zählung sowieso nicht stimmt.
Trotzdem überfällt mich Melancholie. Jetzt liegt tatsächlich schon ein imponierendes Stück Straße hinter mir. Auf dem 3000er-und 4000er-Kilometerstein habe ich kürzlich noch gesessen. Aber was bei Kilometer 2000 oder gar 1000 war, daran kann ich mich nur noch mit Mühe erinnern. Es ist mir plötzlich so, als hätte ich diese Reise bereits vor Jahren angetreten, der Anfang verschwimmt vor meinem inneren Auge wie Bilder aus der Kindheit. Auch der Gedanke, dass das hier mein letzter Tausender ist, stimmt mich wehmütig. In Lhasa hatte ich eigentlich nur noch die Strecke zu Ende bringen wollen. Jetzt aber hätte ich plötzlich nichts dagegen, wenn sie immer weitergehen würde. Wenigstens einen Sechstausender hätte ich gerne noch.
Für heute ist aber sowieso erst mal Schluss. Auf Wunsch von Jean übernachten wir in Sakya, einem kleinen Dorf, das im 13. und 14. Jahrhundert einmal Tibets Hauptstadt war. Ein großes Wehrkloster steht hier in einer «Herr der Ringe»-Landschaft, Hunderte von Tibetern restaurieren es gerade mit ihren bloßen Händen, wobei sie von Mönchen beaufsichtigt werden, die faul danebensitzen. Das Kloster ist in diesem Ort das letzte Zeugnis aus einer Zeit, als die Lamas von Sakya mit dem Hof der mongolischen Khans in enger Verbindung standen. Die Lamas berieten die Khans in religiösen Fragen, die Khans revanchierten sich beim Klerus, indem sie ihnen militärischen Beistand leisteten und Rebellionen im Lande niederschlugen.
Ich gehe heute früher schlafen. Sakya liegt auf viertausenddreihundert Metern, das ist rund siebenhundert Meter höher als Lhasa. Den anderen scheint die dünne Luft nichts auszumachen, mich macht sie kaputt und müde. Wie wird es mir erst morgen gehen, wenn wir im Everest Base Camp übernachten?
Einen ersten Test kann ich schon am nächsten Morgen machen, als der Jeep den Langpa-Pass erklimmt. Die 318 erreicht dabei mit 5248 Metern ihren allerhöchsten Punkt. Es ist kalt und windig hier oben. Schwarze Wolken hängen über den Bergen, und auf der Granitplatte mit der eingemeißelten Höhenangabe liegen die Hörner eines Yaks. Auf der Passhöhe beginnt auch der Qomolangma-Nationalpark, der auf Westlich Everest-Nationalpark heißt. Jean will unsere Ankunft gut tibetisch mit dem Aufspannen eines Strangs Gebetsfahnen zelebrieren. Zusammen mit Sebastian bindet er die bunten Fähnchen an den Torbogen, der sowieso bereits unter einem Haufen Fahnen erstickt. «Ich wünsche mir Weltfrieden», sagt Jean sodann, was uns alle grinsen lässt. «Jean», sagt Sebastian künstlich empört, «das darfst du doch nicht laut sagen. Das ist so wie bei Sternschnuppen. Spricht man den Wunsch aus, geht das Gegenteil in Erfüllung.» – «Ja», haue ich in dieselbe Kerbe, «jetzt bist du schuld, wenn es irgendwo Krieg gibt. Bei jedem Selbstmordattentat werden dich die Mütter der Getöteten verfluchen.» Aber Jean begreift nicht, dass wir ihn nur aufziehen wollen, und fragt: «Wieso? Ist Weltfrieden etwa kein guter Wunsch?»
Jean hätte sich mal lieber dickere Luft hier oben wünschen sollen. Ich halte mich zwar noch auf den Beinen, aber mir ist verdammt schummerig. Nach dem Pass gibt’s allerdings noch einmal eine kurze Höhen-Galgenfrist für mich, denn es geht wieder tausendzweihundert Meter abwärts bis in das Dorf Shelkar. Dort steht ein blaues Schild an der Straße, das uns den Weg zum «Qomolangma Core Zone Ticket Office» weist. Wie jedes interessante Stück Natur in China kostet natürlich auch der Everest einen schönen Batzen Eintritt.
Das Ticket-Office muss sich irgendwo im Snow Leopard Guesthouse befinden, einer flachen Anlage, die aussieht wie ein Fort. Auf dem Hof sind allerdings keine Pferde, sondern dreißig Jeeps, die alle darauf warten, auf den höchsten Berg der Welt zu brettern. Aber Pemba geht nicht in das offizielle Büro. Wir folgen ihm in ein kleines Hinterzimmer einer Wohnung, wo ein altes Mütterchen vier Tickets aus einem Kästchen holt, das sie in einem Schrank
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