Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
öde Landschaft, in der es steht. Die Vegetation geht gegen null, und die einzigen Lebewesen scheinen ein paar Tauben und Spatzen zu sein, die in Pferdeexkrementen nach Nahrung suchen. Dazu pfeift ein eisiger Wind um alle Ecken. Das Tollste aber ist, dass von dem Berg, um den sich hier alles dreht, rein gar nichts zu sehen ist. Da, wo der Everest sein soll, sind nichts als dicke Wolken. «Das ist um diese Jahreszeit normal», erklärt uns Pemba. «Aber vielleicht habt ihr morgen früh Glück. Da lässt er sich manchmal für eine Stunde blicken.»
Der einzige Ort, an dem man es hier oben aushalten kann, ist das Hotel-«Restaurant», eine völlig überfüllte Bergsteigerhütte. Hier gibt es Pfannkuchen, Nudelsuppen mit Eiern, Weißkohl und Bier, und es ist warm, denn in der Mitte des großen Raums steht ein eiserner Kanonenofen. Der qualmt die ganze Bude voll, worüber sich aber niemand beschwert. Das ist seltsam, denn die Hütte ist voll mit braungebrannten, nichtrauchenden sportlichen Mittelschichteuropäern, unter ihnen erstaunlich viele Spanier. Die würden zu Hause sicher jeden kreuzigen, der es wagt, sich in einem Restaurant eine Zigarette anzuzünden. Statt sich mit solchen Lappalien aufzuhalten, diskutieren alle, ob man IHN morgen tatsächlich wird zu sehen bekommen. «Wir sind schon zwei Tage da», erzählt eine alte Waliserin, «aber bisher gab’s nur Wolken.»
Mir ist wirklich egal, ob mir der Berg erscheinen wird. Mir reicht es eigentlich, hier am oberen Ende des Planeten zu sitzen, gemütlich Bier zu trinken und Jean und Christian beim Schachspiel zuzusehen. Von mir aus könnte ich auch die nächsten zwei Tage so verbringen. Aber irgendwann wird die Hütte dichtgemacht, und ich muss mich durch die stockdunkle Nacht zurück in unsere Viermannzelle tasten. Kaum bin ich auf den Beinen, packt mich das Höhenkrankheitselend wieder. Im «Zimmer» krieche ich vor Kälte und dünner Luft zitternd unter zwei kratzende, tonnenschwere und stinkende Wolldecken und liege für etliche Stunden wach. Immer wenn ich gerade dabei bin einzuschlafen, habe ich das Gefühl, dass mir der Sauerstoff ausgeht. Dann schnappe ich unwillkürlich nach Luft und bin schlagartig wieder wach. Ich wusste schon, warum ich niemals auf diesen Berg wollte; hätte ich doch bloß auf mich gehört. Solche Gedanken sind hier sicherlich schon anderen durch den Kopf gegangen. Mehr als zweihundert Tote hat der Everest seit seiner Erstbesteigung im Jahr 1953 gefordert. Ich frage mich allerdings, ob ich wohl auch zu den Everest-Toten gezählt werde, sollte ich in dieser Nacht dran glauben müssen. Oder geht das erst, wenn man die zehntausend Dollar Anmeldegebühr für das Ersteigen des Gipfels bezahlt hat?
Als ich am nächsten Morgen aufwache, lebe ich nicht nur zu meiner Verblüffung noch. Es geht mir sogar deutlich besser. Dafür ist unser Jeep verreckt, der eigentlich Jean und mich die letzten mit dem Auto befahrbaren fünf Kilometer Richtung Basislager bringen sollte. Sebastian und Christian sind schon um fünf Uhr aufgestanden. Die beiden Irren haben sich vorgenommen, es allein bis zur Schneegrenze zu schaffen. Jetzt brechen auch Jean und ich zu Fuß Richtung Base Camp auf. Der Everest steckt zwar immer noch in dicken Wolken, aber der Maler hat ein Gerücht gehört: «Gegen neun lösen sich die Wolken auf, und ER wird uns erscheinen.»
Wir gehen also relativ schnell, und es fällt mir längst nicht mehr so schwer wie gestern, schon gut eine Stunde später erreichen wir das sogenannte Touristencamp. Das ist eine Ansammlung von etwa vierzig Zelten entlang der Base-Camp-Piste, in denen Tibeter Schlafplätze an Touristen vermieten, die es gerne noch ein bisschen ungemütlicher haben. Die Zelte tragen alle Namen, die davon künden, was das hier gewiss mal sein wird: Holiday Inn, Disney Land oder Hotel de California. Vor den Zelten kann man bunte Ketten und Versteinerungen von Urzeitschnecken und Muscheln kaufen, die daran erinnern, dass die Gegend hier vor rund fünfzig Millionen Jahren Meeresboden war. So kann es gehen im Leben, wenn man nur ein bisschen wartet: Gestern noch Schlick im Ozean, heute bereits höchster Berg der Welt.
Das Touristencamp ist auch der letzte Ort vor dem Base Camp, der per Auto zu erreichen ist. Dahinter geht es nur noch zu Fuß oder mit einer Ponykutsche weiter. Da Jean fürchtet, SEIN Erscheinen zu verpassen, und ich keine Lust mehr habe zu laufen, mieten wir uns eine Kutsche. Jeans Nervosität muss sich auf den
Weitere Kostenlose Bücher