Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
vierten Passagier dazunehmen. Und auch das ergibt sich. Am Nachmittag ruft mich Sebastian an, ein Schweizer, ungefähr in Christians Alter. Ein Topeinkauf, wie sich bald herausstellt, denn Sebastian kann Chinesisch nicht nur sprechen, sondern sogar lesen. Ein echter Teufelskerl. Jetzt kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, es sei denn, der Mount Everest fällt morgen um.
Nur weil er da ist – Mount Everest
Der Höhepunkt des Buches. Höher geht’s wirklich nicht. Auch Sie werden selten ein höheres Kapitel gelesen haben. Passen Sie also auf, dass es Ihnen nicht genauso ergeht wie unserem Helden.
Der Mount Everest ist die letzte und mit Sicherheit größte Attraktion, die die 318 zu bieten hat. Der höchste Berg der Welt liegt rund achtzig Kilometer südlich der Straße, die hier den Beinamen China-Nepal Friendship Highway trägt, etwa bei Kilometer 5150. Der Everest zwingt mich aber auch zu einem letzten Geständnis: Genauso wie ich eigentlich nie nach Tibet wollte, so hatte ich auch nie den Ehrgeiz, auch nur in seine Nähe zu kommen. Ich mache mir nicht viel aus Bergen. Ich fahre nicht Ski, ich klettere nicht, ich meide nach Möglichkeit sogar Treppenhäuser, und der höchste Berg, den ich je von unten bis oben bestiegen habe, ist der Jandia auf der kanarischen Insel Fuerteventura. Dieser Hügel ist achthundertsieben Meter hoch, und ich bin nur hochgelaufen, weil der Strand von meiner Freundin blockiert wurde, die mir gerade auf die Nerven ging.
Das war noch ein halbwegs okayer Ausflug. Der Everest aber ist mehr als zehnmal höher. Ab ungefähr sechstausend Metern sind dort oben selbst im Sommer nur noch Schnee und Eis, und ab siebentausend beginnt die sogenannte Todeszone. Ohne Sauerstoff können hier nur noch der Yeti und Reinhold Messner überleben. Ich habe nie begriffen, was Menschen in diesen unfreundlichen Regionen zu suchen haben, zumal man aus jedem Flugzeug bessere Aussicht hat. Heutzutage, so habe ich gelesen, steigen auch nur noch Leute auf den Berg, die einen körperlichen Defekt haben oder sich nach einer Lebenskrise etwas beweisen müssen: Einbeinige, am Herzen Operierte, frisch Geschiedene, geheilte Alkoholiker oder cleane Junkies. Mir fehlt nichts. Trotzdem sitze ich jetzt in einem Jeep, der in Richtung Everest unterwegs ist. Wenn mich aber jemand fragen sollte, warum, würde ich wahrscheinlich dieselbe Quatsch-Antwort geben wie 1923 der Brite George Mallory: «Weil er da ist.» (Und an der 318 liegt.) Mallory hat seinen kühlen Spruch jedoch nicht lange überlebt. Ein Jahr danach blieb er bei seinem Everest-Erstbesteigungsversuch für immer in der Todeszone.
Als Chinese würde ich übrigens nicht Everest sagen, sondern Zhumulangma Feng und als Tibeter Qomolangma. Das soll angeblich Mutter des Universums heißen. Wie soll bloß das ganze Universum mal in den Berg gepasst haben? Allerdings nennen die Tibeter ja auch einen Kalendersprücheklopfer Dalai Lama, was Ozean der Weisheit bedeutet. Im Moment zerbreche ich mir darüber nicht wirklich den Kopf, und es gibt auch sonst keinen Grund zur Beschwerde. Die Sonne scheint, und ihre Strahlen werden von Yarlung Tsangpo beziehungsweise Brahmaputra reflektiert, der jetzt parallel zur Straße fließt, auf über viertausend Metern Höhe. Das ist schon wieder ein Rekord, denn höher fließt auf der ganzen Welt kein großer Fluss. Rekordverdächtig ist auch, wie ich mich mit meinen Mitpassagieren verstehe. Das Tollste aber ist, dass am Steuer des Jeeps ein Tibeter namens Dorje sitzt. Er heißt wirklich so und wäre damit Dorje 3.
Einen Guide haben wir allerdings noch nicht. Den sollen wir, so hat uns König Dorje versprochen, zweihundert Kilometer westlich von Lhasa treffen, in der Stadt Shigatse. Tatsächlich sitzt ein schmales Hemd mit eingefallenen Wangen und traurigen Augen im dortigen F.I.T.-Büro. Dieses Mal ist es kein Chinese, sondern ein Tibeter. Jean hatte König Dorje extra darum gebeten, weil Tibeter die besseren Führer seien, und der lustige König hatte ihm dafür anerkennend auf die Schulter geklopft. Der Guide heißt Pemba und hat eine Nachricht für uns, die zu seinen traurigen Augen passt: «Ihr müsst jetzt erst mal in Shigatse bleiben, denn ihr habt noch keine Permits für den Everest und den Friendship Highway.» – «Wieso denn das?», will ich wissen. König Dorje hat uns doch in Lhasa extra noch einen Tag warten lassen, um uns in dieser Zeit die Genehmigungen zu besorgen. «Ich habe nichts von ihm bekommen», sagt Pemba.
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