Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
«Und jetzt ist es kompliziert, weil Samstag ist. Die Polizeistation hat seit einer halben Stunde geschlossen.» Na super. Aber wenigstens weiß ich jetzt, weshalb König Dorje immer so breit grinsen musste. Er hat wohl an die dummen Gesichter gedacht, die wir machen würden, wenn wir erst einmal in Shigatse sind.
Wieder heißt es also: Warten, warten, warten. Wir nutzen die Zeit und besichtigen das berühmte Tashilhunpo-Kloster, in dem die Panchen Lamas erfunden wurden, die großen Konkurrenten der Dalai Lamas. Zum Komplex gehört eine ganze Klosterstadt, mit kleinen Gassen, verschiedenen buddhistischen Schulen und Häusern mit ummauerten Blumengärten. In den Kapellen des Klosters liegt ein Großteil der Panchen Lamas begraben. Panchen bedeutet so viel wie «großer Lehrer», und deshalb wird den verstorbenen Lamas nicht nur Geld gespendet, sie bekommen auch Bleistifte und Kugelschreiber. Diese stehen zu Hunderten in sandgefüllten Opferschalen an ihren Gräbern. Mir gefällt der Brauch, und ich spendiere zwei Kulis für den beliebten Zehnten Panchen Lama, damit er im Jenseits seine Biographie schreiben kann, Romane oder was auch immer.
Als wir nach zwei Stunden aus dem Kloster zurückkommen, teilt uns Pemba mit, dass es heute mit der Weiterfahrt nichts mehr wird. Er hofft jetzt, am Sonntag einen Polizisten zu erwischen, der die Genehmigungen ausstellt. Für mich klingt das gar nicht gut, und schon wieder zweifle ich, ob ich in diesem Leben jemals das Ende meiner Straße sehen werde. Wenigstens bin ich dieses Mal nicht allein mit Guide und Fahrer. Pemba quartiert uns alle zusammen in einem billigen Hotel ein. Christian, Sebastian und ich teilen uns ein Zimmer und vertreiben uns hier die Zeit mit Jungsgesprächen: «Welche übernatürlichen Fähigkeiten hättet ihr gerne?», fragt Sebastian, der in Peking gerade die erste Staffel von «Heroes» auf Raub-DVDs weggeguckt hat. «Was meinst du damit?», frage ich, weil ich die Serie noch nicht kenne. «So was wie nach innen in die Blase ejakulieren?» – «Das geht doch gar nicht», glaubt Christian. «Doch, indische Yogis können das», beharre ich. «Und mir ist das auch einmal passiert. Allerdings eher aus Versehen, auf Ecstasy.» – «Nein, ich meine», antwortet Sebastian, «so was wie Telekinese, Gedankenlesen, Zeitreisen, Fliegen.» Christian entscheidet sich fürs Zeitreisen, und weil Nach-innen-Ejakulieren nicht zählt, nehme ich Fliegen.
Jean, der in einem Einzelzimmer übernachtet, weil ihm der Schlafsaal zu kollektiv ist, scheint bereits ein Superheld zu sein. Zumindest führt er eine Doppelexistenz. Beim Abendessen in einem indischen Restaurant enthüllt er, dass er eigentlich Anwalt für Urheberrecht im Internet ist, angestellt bei einer großen französischen Bank. Als es der vor einem Jahr nicht mehr so gut ging, hat man ihm angeboten, vier Jahre freizumachen, gegen eine Abfindung, versteht sich. «Ich bin erst mal nach Argentinien. Ich wollte schon immer malen und habe mich in Buenos Aires an der Kunstakademie eingeschrieben.» Ein halbes Jahr lang tat hier Jean nichts anderes, als nackte Frauen zu malen. Dann wollte er nicht mehr. «Das war mir alles nicht exotisch genug. Man sagt nicht umsonst, Argentinien sei das westlichste Land Europas. Ich aber wollte wirklich raus aus allem. Ich bin dann nach Nepal gezogen, in die antike Stadt Bhaktapur. Die liegt ein paar Kilometer östlich von Kathmandu. Die Stadt war mal Hauptstadt des hinduistischen Malla-Reiches, es sieht da heute noch so aus wie vor Hunderten von Jahren.» Für mich ist Jean allein deshalb ein Superheld, weil er für die «Hauptstadt des Malla-Reichs» die nackten Argentinierinnen aufgab.
So geht der erste Tag noch ganz kurzweilig dahin. Am zweiten beginnt das Warten zu nerven. Pemba ist den ganzen Vormittag verschwunden, und niemand kann uns sagen, wo er sich rumtreibt. Am frühen Nachmittag ist er plötzlich wieder da, wie aus dem Boden gewachsen, und verkündet: «Ich habe die Permits. Wir fahren weiter.»
Erst mal geht es zügig durch ein von kargen Bergen umgebenes, fruchtbareres Tal, in dem zwischen grünen Wiesen immer wieder Felder mit blühendem gelbem Senf leuchten. Nach hundertzwanzig Kilometern fällt mir auf der rechten Straßenseite eine rund drei Meter hohe schwarze Tafel auf. «Anhalten», fordere ich, und dann stehen wir alle zusammen vor einem wie ein Berg gezackten Denkmal, das fünftausend Kilometer Nationalstraße 318 feiert. In die Marmortafel eingraviert sind
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