Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
Schülern hatte. Aber Zeitungen zu lesen ist eines, die Realität etwas anderes. Andere Schüler nicken zustimmend, während ihr Klassenkamerad spricht. Und wieder ein anderer ergänzt: »Sie erzählen uns nicht, wie es geschehen ist, warum es geschehen ist.«
Schieben sie euch nur Zahlen und Statistiken rüber, ohne sich die Mühe zu machen, euch genau zu erklären, was wirklich geschehen ist?
»Ja, so ist es.«
Ich erzähle ihnen eine Geschichte über den Krieg, ein Beispiel für das, was sich lange vor ihrer Geburt in diesem Land zugetragen hat.
Damals brachte man den jungen Frauen im Bund Deutscher Mädchen bei, daß sie weder Deodorant noch Lippenstift benutzen sollten, weil es sich um Erfindungen von Juden handelte. Und warum haben die Juden das erfunden? Die Juden, behaupteten die Nazitheologen, kommen mißgestaltet zur Welt und sondern ständig merkwürdige Gerüche ab. Die deutsche Frau jedoch, die von Geburt an schön ist und von Natur aus gut riecht, braucht keine künstlichen Hilfsmittel.
Die Schülerinnen und Schüler schauen mich völlig gebannt an.
Unsere Lehrer, sagen sie, sollten uns auch solche Dinge beibringen!
Ihr Lehrer sitzt neben mir. Er ist fassungslos und beschämt. Er starrt seine Zöglinge an. »Ich wußte das nicht«, sagt er zu mir.
Ja, ich kann es den Schülern nicht verdenken, daß sie diesen einen Traum haben: frei zu sein.
Als ich die Schule verlasse, habe ich nur einen Gedanken im Kopf: Ich liebe diese jungen Leute.
Vielleicht bin ich ja leicht psychotisch. Nachdem ich mich von diesen vom Glück gesegneten Jugendlichen verabschiedet habe, suche ich die Junkies auf. Fragen Sie mich bitte nicht, warum.
In dieser Einrichtung hier ist das Heroin legal. Es gibt hier nämlich ein staatliches Programm, in dessen Rahmen sich die Süchtigen selbst Heroin spritzen können; es wird ihnen vom Staat zur Verfügung gestellt.
Während ich die Räumlichkeiten betrete, erzählt mir ein Mann: »100 Personen, plus minus fünf, erhalten hier jeden Tag ihre Dosis Heroin, weitere 100 kriegen eine Methadonbehandlung.«
Der jüngste Süchtige hier ist 23, das Durchschnittsalter liegt bei 40. Alle, die hierherkommen, haben schon andere Behandlungsformen versucht und sind damit gescheitert. Dreimal täglich kriegen sie ihre Dosis zugeteilt, das Maximum liegt bei 900 Milligramm am Tag.
Werner Heinz, der für die psychosoziale Begleitung des Projektes zuständig ist, sagt, es sei wichtig, daß sich die Menschen nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten. Viele der »Patienten« begannen im Alter von zwölf oder 13 Jahren,Drogen zu nehmen, und »brachen«, so Heinz, »ihre Biographie ab«.
Ich nehme an, es ist Ihnen geradezu ein Bedürfnis, mit diesen Menschen zu arbeiten. Woher kommt das?
»Ich empfinde es als intellektuelle Herausforderung.«
Verraten Sie mir mehr!
»Ich würde mich als politisch links bezeichnen. Da ist eine Wut, die in mir steckt. 1968, da war ich 16, hat mich stark geprägt. Die Marxschen Frühschriften haben mich beeinflußt, und ich entdeckte meine Sympathien für die Dritte Welt. Ein Pendant zu ihr ist hier, bei den Heroinabhängigen.«
Werner erzählt mir auch, daß jemand, der mit Heroin anfängt, etwas »erlebt, wofür ein normaler Mensch 20 Jahre auf dem Himalaya meditieren müßte«. Das Problem ist, daß sich dieser Effekt mit der Zeit verflüchtigt und nichts weiter als eine schreckliche Abhängigkeit übrigbleibt.
Dr. Hamid Zokai, der hier die psychiatrische Betreuung leistet, betritt den Raum.
Warum sind Sie hier?
»Ich hatte jede Menge persönliche Probleme. Ich steckte damals selbst in einer Krise.«
Genial! Ein Psychiater, der einem seine geheimen Neurosen, vielleicht sogar Psychosen anvertraut! Ich beginne übers ganze Gesicht zu strahlen wie ein Kind, das gerade einen Riesenlutscher geschenkt bekommen hat.
Werner, der meinen seligen Gesichtsausdruck sieht, warnt Dr. Hamid, daß alles, was er sagt, von vielen Deutschen gelesen werden wird.
Dr. Hamid läßt sich das durch den Kopf gehen und beschließt, nichts mehr von sich zu erzählen. Zu schade. Werner mit seinen Dritte-Welt-Träumen hat Dr. Hamid in Angst und Schrecken versetzt und mich heute um eine erstklassige Geschichte gebracht!
Aber so oder so ist jetzt keine Zeit dafür. Es ist Fütterungszeit. Nach und nach kommen die Süchtigen herein.
Mein Handy klingelt. Tolles Timing!
Es ist »George« von der Bank of America Merrill Lynch, der mir mitteilt, daß er eigentlich bei
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