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Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Titel: Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuvia Tenenbom
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ihrer »Compliance-Abteilung« in London anfragen müßte, ob er unter seinem richtigen Namen von mir zitiert werden kann. Die Antwort wird voraussichtlich binnen 24 Stunden erfolgen und dürfte höchstwahrscheinlich negativ ausfallen; die andere Möglichkeit wäre, daß ich die Bank of America Merrill Lynch nicht erwähne. Was mir lieber sei?
    Kontaktieren Sie London nicht, sage ich ihm.
    »Okay. Sie nennen meinen Namen nicht, aber Sie können die Bank of America Merrill Lynch erwähnen. Wir treffen uns morgen.«
    Zurück zu den Abhängigen, die inzwischen alle eingetroffen sind.
    Es gibt »Stationen«, die die Süchtigen durchlaufen müssen, um ihre Dosis zu kriegen. An der ersten Station geben sie etwaige Taschen ab. Dann machen sie einen Alkoholtest. Wer etwas getrunken hat, kann sofort wieder gehen. Das hier ist eine ehrbare Einrichtung. Wer nüchtern ist, darf weiter. Nächstes Zimmer, bitte. Hier bekommen sie ihre Dosis. Aber das war es noch nicht. Nachdem sie sich einen Schuß gesetzt haben, geht es weiter zu den Reinigungsutensilien. Man muß sich und seine kleine Ecke saubermachen, wenn man fertig ist!
    Drogenabhängige sind keine Einkaufsbummler. Drogenabhängige haben keine Zeit. Hochkonzentriert wie ein Tiger, der seit einem Monat nichts gefressen hat, stürzt der Abhängige an einen Tisch und macht sich unverzüglich an die Arbeit. Ärmel hochziehen, Hemd aufknöpfen oder Hose herunterziehen. Je nachdem, an welcher Stelle sie meinen, ihren flüssigen Traum in sich hineinspritzen zu sollen. Manche ziehen die unmittelbare Nähe ihrer Weichteile vor. Da und nirgendwo sonst muß es sein. So nah dran wie möglich. Konzentrierter als ein Sternforscher, der den Mond eines fernen Planeten betrachtet, suchen sie den Punkt, die Vene. Dann spritzen sie.
    Ein älterer Mann setzt die Spritze am Oberschenkel an. Eine junge Frau mitten auf dem Venushügel. Jeder nach seinen Gewohnheiten, jeder nach seinen Vorlieben. Und dann sind sie fertig. Wieder in Ordnung bringen, was sie hoch- oder heruntergezogen haben, Abfälle beseitigen und weiter geht’s zur letzten Station, einem geschlossenen Bereich. Hier rauchen sie, ruhen sich aus, unterhalten sich oder meditieren mit den Geistern. Sie müssen eine Zeitlang hier bleiben, bevor man sie gehen läßt.
    Alles läuft hier wie am Schnürchen, wie ein Daimlermotor. Exakt und pünktlich. Keiner der Abhängigen hat die geringste Kontrolle über das, was er tut. Das Heroin hat sie unter Kontrolle. Es ist ihr Herr, und sie sind seine Sklaven. Aber man würde es ihnen nicht ansehen, wenn man ihnen auf der Straße begegnete. Sie sehen normal aus. Nicht wie Banker natürlich, aber trotzdem normal.
    In dieser Kapitale der Kapitalisten wider Willen beherbergt diese Ecke der Stadt den äußersten Widerwillen. Einen größeren Widerwillen werden Sie nicht finden. Das hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nur noch der Mond.
    Thomas, ein älterer Abhängiger, befindet sich gerade im Entspannungsmodus. »Diese Einrichtung«, sagt er, »hat mir das Leben gerettet.« Mit 16, erzählt er, hat er zum ersten MalHeroin genommen. »Meine Freunde waren Künstler, Musiker. In München. Die besten Sachen wurden unter Heroineinfluß geschrieben. Ich war kein Künstler, aber meine Freunde. Damals habe ich angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Ich war im Gefängnis. Oft. Ich hab geklaut – nicht von Leuten, sondern von Firmen – und war im Gefängnis. Ich habe Dope auf der Straße vertickt und wurde erwischt. In München im Gefängnis haben sie mir kein Heroin gegeben. Nicht mal Methadon. Nur Codein. War nicht leicht für mich. Codein, um mich zu beruhigen. Wenn ich kein Heroin habe, kotze ich und muß alle 20 Minuten pinkeln. Ich war an vielen Orten im Gefängnis. Elf Jahre insgesamt. Aber jetzt ist es gut. Morgens kriege ich hier meine Dosis und gehe dann zur Arbeit. In den Zoo. Ich muß gemeinnützige Arbeit leisten. 3000 Stunden, hat das Gericht gesagt. Ich arbeite mit den Affen. Ich füttere sie und mache sie sauber. Dann komme ich hierher und kriege wieder eine Dosis. Danach gehe ich Mittag essen. Eine große Mahlzeit kostet einen Euro. Es ist ein staatliches Programm. Sehr gut. Nach dem Essen geht’s zurück zu den Affen und dann um 20 nach vier wieder hierher. Wer Arbeit hat, kann bis 20 nach vier kommen. Ich kriege meine Dosis und gehe anschließend in den Park. Treffe mich mit Freunden, spiele mit ihnen, und nachts gehe ich in meine Wohnung und schlafe dort. Dreieinhalb Jahre

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