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Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Titel: Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuvia Tenenbom
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Ausdruck links beleidigt. Sie ist eine Linke im wahrsten Sinne des Wortes, jemand, der glaubt, daß JEDER eine Chance im Leben verdient, selbst unser Entdecker Chinas.
    Der Entdecker Chinas verdient eine gute Note, weil er »seine Präsentation selbstbewußt vorgetragen hat«. Die erlaubt sich wohl einen Scherz. Aber nein, sie meint es ernst. Wahrlich ein schräger Vogel. Sie kämpft nun um jeden Notenpunkt. Und obwohl man sich ihren Argumenten nun wirklich nicht anschließen kann, darf sich das Vaterland glücklich schätzen, eine Tochter wie Ines zu haben.
    Sie setzt sich durch. Der China-Entdecker bekommt eine Vier minus.
    Basta, wie Roman von der Claims Conference zu sagen pflegt.
    Die zweite Schule, die ich besuche, ist die Wöhlerschule. Wer hier hingeht, gehört zu den Besten der Besten und sieht auch so aus. Gut frisiert, mit gutem Benehmen, gut angezogen und gut für die Zukunft gerüstet.
    Ich sitze in einem Klassenzimmer. Mathematik-Leistungskurs. Ganz klar: Die Schülerinnen und Schüler hier sind die Klügsten der Klugen. Der nächste Rabbi Schmidt wird von hier kommen, der nächste Scheich Jens. Aber nicht Halb und Halb. All diese Schüler, sieh an, sind deutsche Deutsche. »Das hat sich so ergeben«, sagt der Lehrer. »Normalerweise haben wir viel gemischtere Klassen.«
    Wie kommt es, daß diese es nicht ist?
    »Das liegt daran, daß das hier die Mathematikgruppe ist.«
    Klar, logisch. Wie konnte mir das entgehen! Um wirklich klug zu sein, muß man weiß sein. Ich schaue diese hochprivilegierten Jugendlichen an und frage sie:
    Was würdet ihr gerne werden, wenn ihr erwachsen seid?
    Nach zweiminütigem Schweigen – Fragen dieser Art haben sie anscheinend so gar nicht erwartet – mache ich einen Ton aus:
    Schüler 1: »Ich möchte frei sein.«
    Was sein?
    »Frei.«
    Frei, um was zu tun?
    »Alles, was ich will.«
    Gut. Und was willst du?
    »Frei sein!«
    Das ist alles?
    »Ja.«
    Er sollte auf der Stelle sein Abitur bekommen. Heute. Noch in dieser Stunde. In dieser Minute.
    Seine Äußerungen zeugen von mathematischer Denkfähigkeit und profunder Kenntnis der Ableitung exponentieller Funktionen; sein Scharfsinn sollte daher umgehend gewürdigt werden. Dieser Junge ist ein wahres Genie. Nicht daß ich ihn verstehe, aber wer versteht schon Genies? Genau deswegen ist man schließlich ein Genie, oder?
    Schüler 2: ein gequälter Gesichtsausdruck und ein unterdrücktes Lachen.
    Schülerin 3: »Ich weiß nicht.«
    Schülerin 4: »Ich möchte Doktorin werden.«
    Gelobt sei Goethe! Wir haben eine Gewinnerin! Doktorin in was? frage ich.
    »Doktorin.«
    Jaja. Soviel habe ich schon verstanden. Aber in was?
    »Doktorin in, in, ähm. Doktorin!«
    Zahnmedizin?
    »Nein, nicht Zahnmedizin!«
    Psychiaterin?
    »Vielleicht.«
    Frauenärztin?
    »Vielleicht.«
    Das führt zu nichts. Also stelle ich ihnen eine andere Frage:
    Seid ihr glücklich darüber, in diesem Land zu leben?
    »Es ist okay«, antwortet einer der Schüler.
    Wenn es zu einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich käme, wie viele von euch würden sich dann freiwillig melden, um Deutschland zu beschützen?
    Nicht einer von ihnen. Also das überrascht mich schon.
    Mein Fehler, denn: »Wir sind hier nicht in Amerika«, erklärt mir einer der Jungen, »wir sind nicht so wie die amerikanischen Schüler. Wir sagen nicht jeden Morgen den Fahneneid auf.«
    Was für ein Glück, daß ich hier in Deutschland endlich herausfinde, wie das in New York jeden Morgen so war. Irgendwie war mir das nie bewußt.
    »Mein Urgroßvater«, meldet sich plötzlich ein Schüler zu Wort, »war im Krieg Lokomotivführer. Im Dienst der Nazis. Ich weiß nicht, ob er Menschen zum Ort ihres Todes gebracht hat.«
    »Mein Großvater«, sagt ein anderer, »war in der SS.«
    Wollt ihr deshalb euer Land nicht verteidigen, unterbreche ich diesen plötzlichen gruppendynamischen Prozeß.
    »Ja. Das ist unsere Geschichte.«
    Denkt ihr oft über diese Geschichte nach?
    »Ja.«
    Warum denken junge Leute wie ihr an einen Krieg, der so lange zurückliegt? Liegt es daran, daß euch eure Lehrer zu viele Holocauststudien unter die Nase reiben?
    Nein. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Leidenschaftlich fleht mich ein Schüler unter den Augen seines Lehrers fast schon an: »Unsere Lehrer bringen uns nicht genug bei. Nur Zahlen und Daten. Sie gehen nicht in die Tiefe. Sie erzählen uns nicht, was wirklich passiert ist. Wir wollen mehr wissen.«
    Das entspricht nicht dem Bild, das ich von deutschen

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