Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
Krieg aufgewachsen«, erzählt er mir, »ich kannte nichts anderes, für mich war das Normalität.« Woran er sich jedoch erinnert, sind die Luftangriffe der Alliierten. »Mein Vater sagte mir, daß man in Rom für uns beten wird. Das war mein Religionsunterricht.«
Es wäre doch einmal interessant zu sehen, was für einen Unterricht die jungen Menschen in Deutschland heutzutage genießen. Um das herauszufinden, ziehe ich am folgenden Tag los und besuche zwei Schulen in Frankfurt.
Die erste ist die Freie Schule für Erwachsene. Das ist eine Einrichtung für die Jungs und Mädels, die das Pech hatten, zuvor jene Schulen besuchen zu müssen, mit deren Abschluß sie später garantiert einen schlechtbezahlten Job bekommen. In diesem großen Land gibt es eine überaus komplizierte Formel, die ich mit meinem kleinen Kopf nicht recht erfassen kann, die aber darüber entscheidet, auf welcher Schule manlandet. Ein Schultyp bereitet einen darauf vor, Arzt, ein anderer darauf, Techniker zu werden, und der dritte bringt einem bei, wie man einen Döner macht und Klos putzt. Das ist etwas zugespitzt, aber mehr oder weniger so funktioniert das System.
Die Schülerinnen und Schüler hier haben gleich doppelt Pech. Sie kommen aus dem Toilettenbereich des Bildungssystems und sind obendrein auch noch Schulabbrecher, was bedeutet, daß sie an irgendeinem Punkt ihres Lebens den Grundkurs Toilettenreinigung abgebrochen haben. Die gute Nachricht jedoch ist, daß diese Jungs und Mädels sich dazu entschlossen haben, wieder auf die Schule zu gehen, und deshalb sind sie hier. Nein, nicht um das zu schaffen, was hierzulande Abitur heißt und dem Verein der Glücklichen Jungs und Mädels vorbehalten ist. Aber als zweitbeste Sieger bekommen sie immerhin die CHANCE, weiter zu lernen und VIELLEICHT IRGENDWANN EINMAL das ABITUR zu machen.
Höchstwahrscheinlich wird aus ihnen kein »George« werden, kein Volker, kein Otto und natürlich auch kein Halb und Halb und kein Rabbi Schmidt. Aber diese Leute wollen etwas Besseres, als sie jetzt haben, sie wollen mehr aus sich machen und versuchen, sich gegen das System zu wehren.
Heute finden Prüfungen statt. Mündliche Prüfungen. Wenn sie bestehen, dürfen sie weitermachen, wenn nicht, sind sie raus.
In wenigen Minuten werden diese Schülerinnen und Schüler das, was sie wissen oder auch nicht wissen, vor einem Ausschuß von Lehrkräften vortragen: dem Tribunal.
Das Tribunal ist rein weiß besetzt. Die Prüflinge sind ein »Mosaik« von Menschen: Schwarze, Weiße und alles mögliche dazwischen.
Wenn sie mit einer Sechs benotet werden, sind sie durchgefallen. Die beste Note ist eine Eins.
Das Fach ist Geschichte. Über welche Epoche sie sich prüfen lassen, bleibt ihnen selbst überlassen.
Der erste Schüler hat sich für eine Präsentation des Aufstands im Warschauer Ghetto entschieden.
Ich frage ihn, ob er Jude ist.
»Nein«, antwortet er. »Aber diese Geschichte bedeutet mir viel.«
Alles klar. Es ist ein freies Land, wie mich der Italiener Alvaro gelehrt hat.
Vor dem Tribunal spricht dieser Teenager über die Juden und über das, was die »Deutschen den Juden angetan haben«.
Die weißen Deutschen hören zu, wie dieser Ausländer über sie, die »Deutschen«, spricht. Das ist großes Theater! Besser als jedes deutsche Theaterstück, das ich je gesehen habe.
Es ist absurdes Theater, in gewissem Sinn. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, als ich begreife, was dieser Schüler eigentlich macht. Er dreht den Spieß um; er verwandelt seine Richter in die Angeklagten.
Der Bewunderer des Warschauer Ghettos kriegt eine zwei minus.
Der nächste, bitte!
Sein Thema: der Zweite Weltkrieg.
Was hat der sich in den Kopf gesetzt? Den Zweiten Weltkrieg? Etwas Leichteres ist ihm nicht eingefallen?
Nun, seine Entscheidung.
Einige Fakten kriegt er auf die Reihe. Wie zum Beispiel die Vernichtung der Juden. (Ich kann nicht glauben, daß wir schon wieder bei diesem Thema sind!) Dann springt er rasch zum Ende des Krieges. Rußland, sagt er, hat ihn beendet.
Nur Rußland? fragt einer der Richter.
»Amerika auch, glaube ich«, sagt der Schüler.
Und das ist alles? fragt der Richter.
»Und China.«
Der sollte mindestens eine Neun kassieren.
Eine der Richterinnen jedoch, die letzte der Mohikanerinnen, will ihn partout nicht durchfallen lassen. Sie heißt Ines und ist eine Linke von der Sorte, wie sie einem nur selten begegnet. Keine Linke wie der linke Durchschnittspolitiker, der den
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