Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
sie ihn an dem einen Arm, und die Männer unten ihn an dem anderen. Lot will die Engel, die bei ihm zu Gast sind, nicht herausgeben. Lot steht auf der Schwelle, das Volk packt ihn am Arm und will ihn hinausziehen, um ihn für das Gastrecht, das er gewährt, zu strafen, sich wenigstens über i h n herzumachen, sich an i h m zu vergehen, i h n anzuspeien, zu schinden und zu zertreten, die Engel aber packen ihn von drinnen mit ihren Engelhänden an dem anderen Arm, sie sind stark, sie schlagen die Menschen draußen mit Blindheit, ziehen Lot wieder ins Haus und schließen die Tür zwischen ihm und den Menschen, die Menschen draußen können einander nicht mehr sehen und auch nicht mehr den Eingang zu Lots Haus, sie tasten sich mit den Händen an den Mauern entlang und müssen abziehen. Mein Gott, säume doch nicht. Sie hat nicht die Kraft von Engeln, es gelingt ihr nicht, ihren Mann zu sich nach oben zu ziehen, ihren Mann am Arm festhaltend bittet sie Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, um Erbarmen, auch die Männer, die sie nicht kennt, darunter den mit der Axt, um Erbarmen, aber während sie die Hand ihres Mannes noch festhält, wird ihr Mann unter ihr von den Männern, die sie nicht kennt, und von Andrej, den sie von Kindesbeinen an kennt, erst beschimpft, dann geschlagen, Erbarmen, und schließlich unter ihren Augen zerhackt. Sie lässt nicht los. Erst hält sie ihren Mann an der Hand, dann hält sie nur noch ein Stück Fleisch an der Hand, dann gibt es nichts Lebendiges mehr, das sie zu sich ins Freie hinaufziehen könnte. Dann ist sie eine jüdische Witwe, die den Tod an der Hand hält. Dann lässt sie los, richtet sich auf und blickt auf die kleine Stadt da unten und die weite Landschaft. Es ist heller Tag, es gibt Strohdächer und Dächer, die mit Schindeln gedeckt sind, es gibt Straßen, Plätze und Brunnen, in der Ferne Felder und Wald, Kühe stehen auf einer Weide, eine Kutsche fährt einen Feldweg entlang, unten vor dem Haus stehen Menschen, die zu ihr aufblicken und jetzt schweigen und sich nicht rühren. Und dann sieht sie plötzlich, dass es schneit. Alles erfriert jetzt, denkt sie, gut so, denkt sie, Schnee, Schnee. Sie verliert das Bewusstsein und stürzt, rollt vom abschüssigen Dach hinunter und fällt, wie es ihr Glück will, in einen Haufen aus Kleidern, Bettzeug und Vorhängen, die die Männer zuvor auf die Straße geschleudert haben, sie bleibt da liegen in dem Haufen von Fetzen, in einem Blut aus Himbeermarmelade, die sie im letzten Sommer selbst eingekocht hat, das Marmeladenglas ist beim Rausschmeißen zersplittert, sie liegt so da, mit zerbrochenen Gliedern, die Augen geschlossen, und keiner von den Schweigenden auf dem Platz tritt näher oder schaut, ob sie noch lebt. Sie lebt, aber in dem Moment weiß sie es selbst noch nicht. Das Gestöber hat durch ihren Sturz noch einmal Aufwind bekommen, mehr Federn stieben aus den zerschlitzten Betten auf, zarter Gänseflaum schwebt in der Luft und lässt sich langsam auf den Zweigen der Bäume nieder, Schnee, Schnee, ganz so wie im Winter.
Mit dem Arm voller Wäsche verlässt sie jetzt das Kinderzimmer und geht an ihrer auf der Fußbank sitzenden Tochter vorbei. Sie weiß ganz genau, warum sie ihre Tochter mit einem Christen verheiratet hat. Der Vater sei eines Tages fortgegangen und nie wiedergekehrt, hatte sie der Tochter erklärt, als die nach einem Vater zu fragen begann. Warum ist er fortgegangen? Wohin? Wird er irgendwann einmal wiederkommen?
In den Bücherschrank wurden neue Scheiben eingesetzt. Sie verkaufte das Haus im Ghetto und zog in die Innenstadt, führte das Geschäft ihres Mannes fort und legte alles, was sie erübrigen konnte, für die Aussteuer der Tochter beiseite. Sie weiß schon sehr lange, was ihre Tochter von heute auf morgen lernen wird: Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.
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J etzt war nur offensichtlich geworden, was er sein ganzes Leben, besonders in den letzten drei Jahren, geahnt hatte – dass nämlich, wenn man auch nur ein klein wenig neben die Spur geriet, das Ende genauso unausweichlich war, als wenn man sich gleich geradenwegs in den oder jenen Abgrund gestürzt hätte. Als k.u.k. Beamter, zuständig für einen 35 Kilometer langen Streckenabschnitt der Galizischen Carl-Ludwig-Bahn, wusste er, dass alles davon abhing, Ordnung zu schaffen, und sie dort, wo sie bereits geschaffen war, zu erhalten. Ihm selbst aber war in seinem Leben immer das Leben dazwischen
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