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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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gewordenen Mann, und schüttelt den Kopf. Weiß Gott, was unserem Maideleh eingefallen ist, ihre Kleine mit einem Goj zu verheiraten, sagt der Alte.
    3
    S ie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege, zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Begonnen hatte das Unglück vor vielen Jahren, da war ihre Tochter selbst noch ein Säugling gewesen. Als sie den Lärm draußen hörten, hatte ihr Mann die Amme mit dem Kind gleich ins Kinderzimmer hinaufgeschickt, sie solle die Tür verriegeln, auf gar keinen Fall aufmachen, wenn es klopfe, und die Fensterläden fest schließen. Dann waren sie in der unteren Etage von Fenster zu Fenster gelaufen, um zu schauen, was los war: In den umliegenden Straßen und auf dem Platz vor dem Haus schienen sich Leute zu sammeln, manche rannten, manche schrien, aber was sie schrien, war nicht zu verstehen. Sie und ihr Mann waren nicht mehr dazu gekommen, auch unten die Fensterläden zu schließen, bevor die ersten Steine das Haus trafen. Der Mann hatte versucht zu erkennen, wer die Steine warf, und hatte Andrej erkannt. Andrej, hatte er hinausgerufen, Andrej! Aber Andrej hörte nicht, oder tat so, als ob er nicht hörte, was wahrscheinlicher war, denn er wusste ja, wer in dem Haus lebte, das er mit Steinen bewarf. Dann flog ein Stein von Andrej durch eine Fensterscheibe, flog nur um Haaresbreite an ihrem Kopf vorbei, krachte hinter ihr in den verglasten Bücherschrank und traf den 9. Band der in Leder gebundenen Gesamtausgabe von Goethe, die ihr Mann von seinen Eltern als Geschenk zum Schulabschluss bekommen hatte. Keine Luft von keiner Seite!/ Todesstille fürchterlich!/ In der ungeheuern Weite/ Reget keine Welle sich! Daraufhin hatte ihr Mann voller Zorn die Eingangstür aufgerissen, offenbar, um Andrej beim Kragen zu packen und zur Vernunft zu bringen, hatte aber die Tür sofort wieder zugemacht, als er sah, wie Andrej jetzt, zusammen mit drei oder vier anderen jungen Männern, von denen einer eine Axt in der Hand hielt, im Laufschritt aufs Haus zukam. Hatte schnell den Schlüssel im Schloss umgedreht und gemeinsam mit ihr, seiner Frau, versucht, die Bretter, die für einen solchen Notfall immer griffbereit in der Nähe der Tür standen, vor die Tür zu nageln. Dazu aber war es schon zu spät gewesen, wo die Nägel, wo der Hammer, schon begann die Tür unter den Axthieben zu splittern. Andrej, Andrej. Da waren sie und ihr Mann die Treppe hinaufgelaufen, hatten an die Tür gepocht, hinter der die Amme mit dem Kind saß, aber die hatte nicht aufgemacht, entweder weil sie nicht verstand, wer da um Einlass bat, oder weil ihre Angst so groß war, dass sie die Tür einfach nicht aufmachen wollte. Über die letzte, steile Stiege waren sie und ihr Mann dann auf den Dachboden geflüchtet, als Andrej und seine Männer schon unten ins Haus drangen. Im Erdgeschoss zerschlugen die Eindringlinge die restlichen Fensterscheiben, rissen die Fensterrahmen aus der Wand, stießen den Bücherschrank um, schlitzten die Bettdecken auf, zerschmissen Geschirr und Einweckgläser, schütteten die Vorräte auf die Straße, dann aber musste einer von ihnen gehört haben, wie sie und ihr Mann versuchten, die Dachbodentür zu verriegeln, denn ohne sich im ersten Stock aufzuhalten, liefen die Männer jetzt die Treppe hinauf, rissen auf dem Weg nach oben die Tapete von den Wänden und hieben mit der Axt hier und da Löcher ins Mauerwerk. Sie und ihr Mann standen hinter der Dachbodentür, die sehr dünn war, sie hatten den Riegel vorgeschoben, aber kein Möbel gefunden, das schwer genug gewesen wäre, um damit die Tür zu verbarrikadieren, jetzt hörten sie die Schritte der Männer auf der letzten, steilen Stiege. Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin. Der Himmel, der Himmel. Ging es nicht nach unten, musste es nach oben einen Ausweg geben. Sie begannen, die Ziegel des Daches mit den Händen fortzustoßen und sich so eine Öffnung zu schaffen. Aber die Tür in ihrem Rücken, die die Verfolger einen Moment lang aufhält, ist dünn, nur ein paar Bretter. Ihr Mann hilft ihr, sich hochzuziehen und durch die Öffnung aufs Dach zu klettern. Und dann will sie ihn nachziehen. Und dann hält die dünne Tür den Schlägen der Meute nicht mehr stand. Und dann zieht

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