Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Flur, an der Tochter vorbei, und bringt ihn in den Keller. Vielleicht aber doch, dass das Kind noch nicht getauft und die Ehe der Eltern nur eine sogenannte Notzivilehe war. Nach jüdischem Brauch haben sie es heute begraben, und nach jüdischem Brauch wird sie nun auf der Fußbank sitzen für sieben Tage, doch der Mann spricht nicht mit ihr. Sicherlich ist er jetzt in der Kirche und betet für die Seele des Kindes. Wo kann denn die Seele des Kindes nun hin? Ins Fegefeuer, ins Paradies oder die Hölle? Oder war es so, wie manche sagen, dass das Kind eines von denen war, die nur kurze Zeit brauchen, um irgend etwas aus einem anderen Leben, von dem die Eltern nichts wissen, zu Ende zu bringen, und deshalb so bald schon dahin zurückkehren, woher sie kamen? Ihre Mutter kommt wieder, geht in das Zimmer des Kindes und schließt dort die Fenster. Vielleicht gab es doch jenseits des Lebens einfach nur nichts? Ganz still ist es jetzt in der Wohnung geworden. Das wäre ihr im Grunde genommen das liebste.
Als es dunkel wird, beginnen ihre Brüste, hart zu werden und zu schmerzen. Milch hat sie noch, Milch für ein Kind, das unter der Erde liegt. Am liebsten will sie an dem, was sie jetzt zuviel hat, verrecken. Während das Kind noch nach Luft schnappte und dann blau anlief, hatte sie in Gedanken alle Zeit ihres Lebens dem Kind geschenkt, hatte mit dem Gott ihrer Väter einen Handel schließen wollen und ihr Leben für das Leben, das aus ihr gekommen war, eintauschen wollen. Aber der Gott, wenn es ihn gab, hatte das Geschenk nicht angenommen. Sie lebte. Jetzt fällt ihr wieder ein, wie die Großmutter von der Hochzeit an nie wieder zuließ, dass sie mitkam, um den Großvater zu besuchen. Erst als das Kind schon da war, und sie es ihm unbedingt zeigen wollte, erfuhr sie, dass der Großvater an dem Tag, als sie, seine Enkelin, den Goj geheiratet hatte, für diese lebendige Braut die Totenwache abgehalten und trotz seiner Schwäche sieben Tage lang auf dem Bett gesessen hatte. Von oben, aus dem Himmel des Großvaters gesehen, hatte also auch sie schon die Grenze des Lebens überschritten und besaß gar nichts mehr, das sie dem Gott zum Tausch hätte anbieten können. Als die Nacht kommt, schiebt sie die Schüsseln mit dem Essen beiseite und legt sich dort, wo die Fußbank steht, schlafen. Sie hört nicht, wann die Mutter sich schlafen legt. Sie hört auch nicht, wann ihr Mann zurückkommt. Irgendwann in dieser Nacht ist es genau vierundzwanzig Stunden her, dass in einer kleinen galizischen Stadt, 50.08333 Grad nördlicher Breite, 25.15000 Grad östlicher Länge, ein Säugling plötzlich gestorben ist.
2
E in alter Mann liegt in einem Bett in einer dunklen Hütte und schweigt. Schon seit langer Zeit liegt er so, Tag für Tag, er weiß, dass die Leute sagen, er liege im Sterben, aber während das Sterben für manche ein kleines Vorzimmer ist, das sie mit einem Schritt, einem Sprung durchqueren, um auf die andere Seite zu gelangen, liegt er in einem riesigen Sterben, das zu durchqueren ihm einfach nicht gelingen will, vielleicht, weil er schon zu schwach ist.
Neben ihm sitzt seine Frau, sitzt lange, ohne etwas zu sagen, draußen ist es inzwischen schon wieder dunkel. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, sagt sie schließlich.
Im letzten Frühjahr hatte seine Frau oft neben ihm gesessen und gestrickt, und obgleich seine Augen nicht mehr die besten waren, hatte er gesehen, dass die Sachen, an denen sie arbeitete, sehr klein waren. Eines Tages dann hatte sie aus den Vorräten, die für die ganze Woche hätten reichen sollen, einen Kuchen gebacken und war aus dem Haus gegangen. In dieser Woche hatte es am Sabbat kein Ei in der Suppe gegeben. Er hatte sie nichts fragen, sie nichts erklären müssen.
Heute früh, als es noch dunkel war, hat er im Halbschlaf seine Frau und die Tochter in der Stube tuscheln hören, nach dem Mittag dann ist seine Frau aus dem Haus gegangen und erst bei Einbruch der Dunkelheit wiedergekehrt, sie hat sich neben ihn gesetzt, lange geschwiegen, und schließlich gesagt: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.
Zur Hochzeit der Enkelin waren die beiden Alten nicht eingeladen worden. An dem Tag, an dem die Enkelin einen Goj heiratete, hatte der Alte sich in seinem Bett aufgesetzt und sieben Tage gesessen, um für diese lebendige Braut, wie es sonst nur üblich war, wenn jemand starb, die Totenwache zu halten.
Jetzt schweigt seine Frau neben ihm, ihrem alten, bettlägerig
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