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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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wie mit dem Protokollchef besprochen, seinen Kranz selber zu nehmen. Die Urne, das Samtkissen mit den Orden der Mutter, die Bücher, die Fahnen und die offiziellen Kränze werden von Soldaten des Wachregiments aufgenommen und an der Spitze des Trauerzuges zur Grabstelle gebracht. Der Sohn geht als erster Trauernder gleich hinter dem Träger der Urne, aber weil der Zug von diesem so langsam angeführt wird, muss er achtgeben, dass er dem nicht in die Hacken tritt. Will das Wachregiment die Gäste durch dieses langsame Gehen in die Trauer hineinzwingen? Wacht das Wachregiment über das vorgeschriebene Maß an Rührung?
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    A us dem Dunkel streckt sich ihr eine kleine Hand entgegen, auf der etwas Gelbes liegt. Ah, endlich reicht Sascha ihr die Zitrone, auf die sie schon so lange wartet.
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    B eim Grab angekommen, senken die Fahnenträger ihre zwei Fahnen, während die Urne in die Grube hinuntergelassen wird. Völker hört die Signale, auf zum Jüngsten Gericht. Ach, er hat sich nur verhört, denn er weiß ja, dass die Posaunen der Arbeiterklasse zum letzten Gefecht rufen, nicht zum Jüngsten Gericht. Aber der Tod ist doch das letzte Gefecht, oder nicht? Die Internationa-a-le. Erkämpft. Das Men. Schenrecht.
    Der Sohn stellt sich jetzt, wie abgesprochen, links neben der Grube auf, hinter sich den Tisch mit den Büchern der Mutter. Auf der anderen Seite des Grabes hat man das Samtkissen mit den Orden wieder auf einen Sockel gestellt, zwischen Orden und Grube bietet der Friedhofsdiener den Trauernden seine Rosenblätter an (5 Körbchen).
    Wer sich anstellt, muss zuerst an dem Kissen mit den Orden der Mutter, dann am Friedhofsdiener vorbei, dann an der Grube, in der unten der bronzefarbene Topf steht, und schließlich an ihm, dem einzigen Sohn.
    Der Sohn schüttelt Hände.
    Er schüttelt die Hand der Tochter des Präsidenten und die des Präsidenten selbst, schüttelt die Hand des Intendanten der Volksbühne Berlin, schüttelt viele Hände berühmter Schriftsteller, berühmter Bildhauer und berühmter Komponisten, er schüttelt die Hand der rheumakranken Frau, die Hand des stellvertretenden Botschafters der Sowjetunion in Berlin, Hauptstadt der DDR , und auch die Hand der Brigadeleiterin der Salatabteilung desFischverarbeitenden Kombinats Sassnitz, schüttelt kleine Hände von Pionieren, junge Hände von Frauen, die später vielleicht auch einmal Schriftstellerin werden wollen, und alte Hände der Genossen, die die Mutter noch aus Moskau kannten, aus Prag oder aus Ufa.
    Ganz am Ende des Defilees streckt er einem fremden Mann seine Hand hin, und der Mann sieht ihn mit seinen eigenen graublauen Augen an, und der Mund des Mannes sieht genauso aus wie sein eigener Mund, den er jeden Morgen im Spiegel sieht. Mit genau solch einer brüchigen Stimme, wie er selbst sie hat, räuspert der Mann sich jetzt und spricht dann sein herzliches Beileid aus, nur heißt sein herzliches Beileid anders, als das der anderen Leute, es heißt: Sobolesowanija – und erinnert den Sohn der Verstorbenen so plötzlich, als sei die Erinnerung ein Vorhang, der auf einmal zerreißt, an seine russische Kindheit.
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    D anke, sagt er, und der Mann nickt ihm zu, aber dann kommen schon wieder andere, die dem Sohn die Hand schütteln wollen, und als die Schlange endlich zuende ist, und der Protokollchef die Orden der Mutter wieder in die entsprechenden Kästchen zurückgelegt hat und diese dem Sohn übergibt, und ein Soldat des Wachregiments die Bücher der Mutter in eine Tasche hineinsteckt und wegbringt, und ein Totengräber beginnt, die Grube wieder mit dem hellen, märkischen Sand zu füllen, und die eine oder andere Freundin der Mutter, Tränen in den Augen, dem Sohn noch einmal über den Kopf streicht, bevor sie geht, als die Trauergemeinde sich endlich zerstreut hat und verlaufen, ist auch der fremde Mann nicht mehr zu sehen, und er, der einzige Hinterbliebene, der noch nicht einmal volljährige Sohn der Verstorbenen, fährt mit der Straßenbahn Nr. 46 zurück in das Haus, das er bis jetzt mit seiner Mutter bewohnt hat, und in dem ihn nun niemand erwartet.
    Ich bitte dich, zieh im Flur deine Schuhe aus. Durch die unsichtbare Mutter hindurch steigt er die Stufen nach oben, geht in das Ankleidezimmer der Mutter, nimmt den Schlüssel vom geheimen Haken und schließt auf: Im Wäscheschrank liegen Bettbezüge, Kissenbezüge, Handtücher und Laken.
    Ganz unten unter den Laken ein verschlossener Brief.
    Russische Briefmarken, eine Wiener Adresse in der

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