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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Schauspieler, der in dem berühmten Stück der Mutter die Hauptrolle gespielt hat, auf diesem Sofa hat gelegentlich auch der berühmte Bildhauer gesessen, mit dem zusammen sie seinerzeit den Vaterländischen Verdienstorden bekam, und kürzlich erst saß hier der berühmte Komponist, der aus einem Text von ihr eine Oper machen will.
    Jetzt sitzt er, ihr siebzehnjähriger Sohn, auf diesem Sofa, vor dem Blumenstrauß, der noch kein bisschen verwelkt ist, und schaut auf seine unsichtbare Mutter, die in dem Sessel sitzt, in dem sie immer gesessen hat, wenn Besuch kam.
    Und mein Vater?
    Der ist bei Charkow gefallen.
    Während es allmählich dunkel wird, versucht er, sich die viele Zeit vorzustellen, die er jetzt ohne seine Mutter verbringen wird. Mit ihrem Leben hören auch die Erinnerungen, die er an sie haben könnte, zu wachsen auf. Was man hat, hat man, hat seine Mutter immer gesagt. Aber durch seine Vergesslichkeit wird er die Mutter nun früher oder später noch ein zweites Mal verlieren, dann stückweis.
    Das große Fenster, das aus dem Empfangszimmer auf die Terrasse hinausführt, ist jetzt ganz und gar schwarz.
    An vielen Abenden vieler Jahre, vom Frühling bis in den Herbst hinein, hat er mit seiner Mutter auf dieser Terrasse gesessen. Hier hat sie ihm von Valentinowka erzählt, dem Ort, in dem sie die Moskauer Sommer verbrachten, sie, sein Vater, der bei Charkow gefallen ist, und ihre Freundin O. Die Blätter riechen hier ganz genauso wie dort, hat sie immer gesagt. Nur war in Valentinowka ein Flüsschen jenseits der Straße, in dem ist sie jeden Morgen, noch vor dem Frühstück, geschwommen. Wohl durch diese Erzählungen seiner Mutter sieht er immer, wenn jemand von Moskau spricht, Bäume vor sich und gelbe Blätter, die auf einer feuchten Wiese liegengeblieben sind, sieht statt des Kremls und goldener Türmchen einen kleinen, sonnenbeschienenen Fluss, sieht unter der Oberfläche des Wassers Algen, die von der Strömung leise hin- und herbewegt werden, und kleine Fische.
    Ob seine Mutter sich auch damals schon so vor Gewittern gefürchtet hat? Seit er sie kennt, fürchtet sie sich nicht nur vor Donner und Blitz, sondern auch vor dem Wind, der plötzlich durch das Haus fahren könnte und alles zerschmeißen. Hast du die Terrassentür fest zugemacht? Ja. Und das Fenster im Esszimmer? Ja. Dann geh ich hinauf. Gut. Die Terrassentür? Jaja. Dann ging sie hinauf in ihr Schlafzimmer, schloss auch dort sorgfältig die Tür und kam nicht eher wieder heraus, als bis vom Gewitter nur noch der Regen übrig war.
    An warmen Abenden aber saßen er und seine Mutter oft bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Terrasse. Sie las, er machte seine Aufgaben für die Schule oder schrieb den monatlichen Rechenschaftsbericht für seine Klassengruppe der Freien Deutschen Jugend .
    Kannst du mir nicht helfen?
    Was habt ihr denn gemacht?
    Wir waren im Pergamonmuseum.
    Dann schreibst du, wir waren im Pergamonmuseum.
    Das reicht nicht.
    Ach so. Dann schreibst du, ihr habt die Geschichte der Klassenkämpfe am Beispiel der antiken Sklavenhaltergesellschaft untersucht.
    Gut.
    Hast du gemerkt, wie hoch die Treppenstufen sind, die zum Pergamonaltar hinaufführen?
    Ja.
    So ist das, wenn die Leute Ehrfurcht haben sollen vor ihren eigenen Göttern.
    Soll ich das schreiben?
    Nein.
    Seine Mutter sitzt draußen nahe beim Licht, er ist kurz ins Haus gegangen, um etwas zu holen, ein Glas Wasser, einen Schreibblock, ein Lineal. Als er wiederkommt, blickt er aus der Tiefe des dunklen Hauses auf ihren Rücken. Seine Mutter hat ein Buch auf den Knien, aber sie liest nicht, sie sitzt und schaut in die Nacht. Sie dreht sich nicht zu ihm um. Sie weiß ja, er kommt gleich wieder. Sie hat eine dicke Jacke an, weil es schon kühl ist.
    Warum hast du mich einfach nur Sascha, und nicht Alexander, genannt?
    Warum bist du nie auf den Dachboden gegangen?
    Welche Apfelsorte ist für den Strudel am besten?
    Mit der Mutter sind auch die Antworten auf diese Fragen gestorben.
    Lag, als ich im April in Ufa geboren wurde, noch Schnee?
    War das erste Wort, das ich sprach, deutsch oder russisch?
    Wie hieß meine Njanja?
    Mit der Mutter ist auch ihr Blick auf ihn gestorben, und alles, was jenseits seiner eigenen Erinnerung liegt. Um zu erfahren, was sie ihm bis jetzt nicht gesagt hat, wird er, und wenn er achtzig Jahre alt würde, von jetzt an nie mehr alt genug sein.
    Hat sie wirklich kein Foto von seinem Vater?
    Seine unsichtbare Mutter sitzt mit dem Rücken zu ihm, schweigt

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