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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Küchentisch saß und ihre Hausaufgaben machte. Irgendwann ist sie zum letzten Mal im Krasni Mak gesessen. Zu vielen Zeiten ihres Lebens hat sie irgend etwas für immer zum letzten Mal gemacht, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Also war der Tod gar kein Augenblick, sondern eine Front, lebenslang? Dann stürzte sie also nicht nur aus dieser Welt hinaus, sondern aus allen möglichen Welten? Stürzte aus Wien hinaus, aus Prag und aus Moskau, aus Berlin, aus den sozialistischen Bruderländern und aus der westlichen Welt? Stürzte aus der ganzen Welt und auch aus all der Zeit, die da war, da sein würde und da ist? Aber was wird jetzt aus ihrem Sohn?
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    B ei der Trauerfeier steht die Urne mit der Asche seiner Mutter vorn auf einem Podest, zwischen zwei Fahnen, von denen die rote auf der linken Seite so drapiert ist, als ob sie nach links wehe, und die Landesfahne auf der rechten Seite so, als wehe sie nach rechts. Wer ist nur auf die Idee gekommen, die Fahnen so zu drapieren, als käme der Sturm aus der Urne? Lächerlich, hätte seine Mutter gesagt.
    Neulich erst ist die Mutter beim Friseur gewesen, um die Farbe ihrer Haare auffrischen zu lassen. Jetzt sind ihre frisch frisierten Haare verbrannt, und auch ihr Gesicht ist aus Asche, ihre Schultern sind da in dieser bronzefarbenen Büchse, und auch ihre Hände mit den fleischigen Fingerkuppen, ihre runden Knie, die Füße, und auch die Zehnägel, perlmuttlackiert. Nackt hat er seine Mutter niemals gesehen, aber er hat gesehen, wie sie beim Schlafen aussieht, oder wie sie beim Sitzen die Beine übereinanderschlägt, gesehen, wie sie wartet, gesehen, wie sie sich Wasser einschenkt, wie sie aufsteht, sich einen Mantel anzieht, wie sie nach ihrer Handtasche greift, wie sie geht. Der Körper seiner Mutter war die Landschaft, die er von allen Landschaften auf der Welt am besten kannte.
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    E ine uralte Frau schüttelt direkt vor ihren Augen eine Kinderklapper aus Elfenbein, mit Glöckchen aus Silber. Hält still. Schüttelt. Hält still. Wenn die Glöckchen dreimal geklingelt haben, darf man ins Theater hineingehen.
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    I n der Mitte, angelehnt an das Podest mit der Urne, sein Kranz, daran die Schleife, mit schwarzer Schrift bedruckt: Für meine Mutter . Davor der Kranz des Zentralkomitees der Partei: Der verdienten Genossin, der Kranz des Ministerrats: Der treuen Kämpferin, der Kranz der Volkskammer: Mit sozialistischem Gruß, der Kranz des Magistrats der Hauptstadt der DDR , Berlin: Der Ehrenbürgerin unserer Stadt, der Kranz des Schriftstellerverbands: Der großen Schriftstellerin, und: Unvergessen, der Kranz des Kulturbunds.
    Wer hat die Schleifen so hingelegt, dass man all die Abschiede lesen kann?
    Vor vierzehn Tagen waren es noch vierzehn Tage, bis er hier vor ihrer Urne sitzen würde, aber er hat es nicht gewusst.
    Rechts neben der Urne ist auf einem Sockel ein Samtkissen aufgestellt, darauf die Orden der Mutter: Die Genosse-G.-Medaille, der Vaterländische Verdienstorden, der Goethe-Preis und zweimal das Banner der Arbeit.
    Und vor zehn Tagen zehn.
    Und links neben der Urne ein Tisch mit ihren Büchern.
    Die Musik, die gespielt wird, ist von Beethoven, steht im Programm. Wer hat eigentlich die Musik ausgesucht?
    Also ist die Zeit immer schneller heruntergerauscht, bis sie um war? Warum hat er nichts davon gemerkt, und auch nicht seine Mutter?
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    S ie selbst ist es, die das Papier durchschneidet, den ganzen Stapel von oben bis unten mit einem Schnitt.
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    D ie erste Rede hält der Kulturminister.
    In Ufa hat mir dessen Frau die ersten zwei Windeln für dich geschenkt.
    Dann wird wieder Musik gespielt, diesmal: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Wir stehen und trauern voll Schmerz, Herz und Sinn.
    Auf Russisch gefällt mir der Text aber besser.
    Danach die zweite Rede, gehalten vom Präsidenten der Akademie der Künste.
    Der gehört zu der Sorte von Funktionären, die a u c h schreiben.
    Heute vor einer Woche hat seine Mutter noch gelebt. Da ist schon der allerletzte Rest ihres Lebens weggerutscht, aber sie hat sich genauso langsam bewegt wie immer. Niemals hat er seine Mutter zum Beispiel rennen sehen. Aus der Entfernung sah sie immer schon wie eine alte Frau aus, gebeugt und irgendwie schief, auch schon mit fünfzig.
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    W onach stehen all diese Leute an? Gibt es hier Dunkelheit umsonst? Aber davon wird doch keiner satt.
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    A m Schluss wird ein Stück von Haydn gespielt, währenddessen erheben sich alle, und der Sohn geht nach vorn, um,

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