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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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und gibt keine Antwort.
    10
    H at ihr Sohn ihr überhaupt zugehört, wenn sie ihm von all dem Neuen, was sie hier versuchten, erzählte?
    In der sonnigen Stille eines Sabbats fällt ein Brief aus einer sich öffnenden Hand in eine Hand, die jemand aufhält.
    Warum fällt ihr jetzt ein, was die Großmutter ihr vor einem halben Leben erzählt hat?
    Aber der eine muss den Brief abgeben wollen und der andre ihn nehmen, hatte sie der Großmutter entgegnet.
    So ist es.
    Und der Wille ist keine Arbeit?
    Wenn ihr jetzt einfiele, was die Großmutter auf diese Frage geantwortet hat, würde alles noch einmal gut.
    Aber es fällt ihr nicht ein.
    Sie stürzt.
    11
    S chon oft hat er Angst gehabt, sie zu verlieren. Manchmal bekam sie Ohnmachtsanfälle, fiel von einem Augenblick auf den anderen hin und atmete dann so schwer, dass er jedesmal dachte, sie würde ersticken. Sie sah dann anders aus als sonst, gar nicht mehr wie seine Mutter. Dass sie überlebte, bedeutete für ihn vor allem, dass sie sich zurückverwandelte in die, die er kannte.
    War er vielleicht selber schuld an dem, was sie ihre Zustände nannte?
    Als Kind hatte er manchmal vergessen, wie leicht sie außer sich geriet. Zum Beispiel, als er einmal den Schlüssel für ihren Wäscheschrank vom geheimen Haken nahm, weil er einen Kissenbezug für ein Faschingskostüm brauchte. Wie konnte er es wagen, an ihren Schrank zu gehen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen? Oder als er mit Freunden selbstgebaute Feuerwerkskörper im Garten explodieren ließ. Oder mit einem Regenschirm vom Terrassendach sprang, um fliegen zu lernen. Sich in einer Kiste auf dem Dachboden versteckte und wartete, ob seine Mutter ihn fand – dabei wusste er doch, dass sie den Dachboden niemals betrat. Als er schließlich aus seinem Versteck kam, standen schon zwei Volkspolizisten im Flur, und die Mutter saß weinend auf der untersten Stufe der Treppe.
    Der Treppe.
    Vor drei Jahren hatte es den großen Vorfall gegeben, wie seine Mutter das immer nennt. Immer genannt hat. Seine erste Freundin war gerade bei ihm zu Besuch gewesen, als die Mutter von einer Reise heimkam, das Klingeln hatte er überhört. Die Mutter war, ohne zu klopfen, plötzlich in sein Zimmer getreten und hatte, nach einem Blick auf das sich küssende junge Paar, die Tür sogleich wieder zugeschlagen. Die Freundin schob er daraufhin, soschnell es ging, hinaus, sie kam auch nie wieder zu ihm, aber dennoch stand dieser große Vorfall vielleicht im Zusammenhang mit dem ersten Herzinfarkt seiner Mutter. Denn nur wenige Wochen später war sie in ihrem Arbeitszimmer zusammengebrochen und hatte mit Blaulicht abtransportiert werden müssen.
    Wenn seine Mutter zur Untersuchung im Krankenhaus lag, zur Kur war oder verreiste, blieb er in letzter Zeit einfach mit der Haushälterin allein, die nach der Schule für ihn kochte und danach heimging. Die Haushälterin roch nach Schweiß. Als er kleiner war, hatte die Mutter diese oder jene Kinderfrau angestellt, um bei ihm im Haus zu wohnen, während sie selbst unterwegs war – Lesungen oder Premieren ihrer Stücke in anderen Städten hatte, mit Delegationen des Schriftstellerverbands nach Polen reiste, in die Tschechoslowakei oder nach Ungarn. Die eine Kinderfrau hatte beim Vorlesen eine feuchte Aussprache gehabt, die andere ihn bei der Begrüßung in die Wange gekniffen, die dritte war aus Prinzip nicht noch einmal an sein Bett gekommen, wenn er aus Angst vor der Dunkelheit nach ihr rief.
    Die Haushälterin roch nach Schweiß.
    Wenigstens muss er sich jetzt keine Sorgen mehr machen um seine Mutter.
    Ganz gewiss ist jetzt, dass sie sich nie wieder zurückverwandeln wird in die, die er kennt.
    Und sein Vater?
    Der ist bei Charkow gefallen.
    12
    A ls sei ein letzter Augenblick in einem anderen letzten gleichzeitig da, weiß sie genau, wie es an dem Vormittag war, als sie sich von ihrer Großmutter verabschiedete. Einen Tag, bevor sie unter falschem Namen nach Prag ging. Die kleine Standuhr schlug mit blechernen Schlägen gerade 11 Uhr, die Großmutter wickelte für sie noch ein paar Barches in ein Tuch und gab ihr einen Zettel mit, auf dem das Rezept stand. Die Haut an den Händen der Großmutter war so dünn, dass die Adern violett durchschimmerten.
    Aber die Dinge, die zum letzten Mal passiert sind, ohne dass es das letzte Mal hieß, hat die Zeit verwischt. Irgendwann hat ihre Mutter ihr zum letzten Mal das Haar hochgesteckt. Irgendwann hat sie selbst zum letzten Mal abgewaschen, während ihre Schwester am

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