Allerliebste Schwester
ihr für sein Aufbrausen, küsste sie zärtlich und führte sie ins Schlafzimmer.
»Ein Junge«, stellte der Frauenarzt ein paar Wochen später beim Ultraschall fest. Tobias stand neben Eva,
blickte auf den Monitor und drückte erleichtert ihre Hand. »Ein Junge!«
»Lukas.« Lächelnd sprach sie den Namen aus, auf den sie sich bereits vor der Schwangerschaft geeinigt hatten. Ins Licht hinein geboren. Das Licht am Ende ihres Tunnels.
Und jetzt also wieder der 8. Dezember. Tobias führt Eva in ein feines Restaurant aus, bestellt das teuerste Menü von der Karte und eine Flasche Rotwein. Ein »besonders guter Tropfen«, wie er sagt. Gabriele hat Eva Blumen und ein Geschenk zu Hause vorbeigebracht. Das Jahr magischen Denkens von Joan Didion. Das Leben ändert sich schnell . Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf. Der Mann der Autorin erlitt beim Abendessen einen Herzinfarkt und starb daran, hat Eva im Klappentext gelesen. Sie beobachtet, wie Tobias hungrig seine Gänseleberpastete verschlingt. Vielleicht fällt er ja gleich auch tot um.
»Schmeckt es dir?«, will er wissen. Sie nickt, während sie wie auf Watte kaut, dann einen Schluck von dem Rotwein nimmt, um den Bissen hinunterzuspülen. »Das freut mich. War gar nicht leicht, hier einen Platz zu bekommen.«
Sie sieht sich um. Die Gäste haben sich alle schick gemacht und sind bestens gelaunt. Vermutlich, weil sie alle sich freuen, hier einen der Plätze ergattert zu haben, die ja so schwer zu bekommen sind. Der Kellner räumt ihre Vorspeisenteller ab, Tobias greift über den Tisch nach ihrer Hand.
»Die ist ja ganz eisig«, wundert er sich besorgt.
»Mir ist kalt.«
»Möchtest du mein Jackett haben?« Sie schüttelt den Kopf. Und dann denkt sie wieder an Lukas und daran, wie sie seit ihrer Hochzeit vor zweieinhalb Jahren versucht haben, ein Kind zu bekommen. Ihre Hochzeit, eine trostlose Veranstaltung im ganz kleinen Kreis. Nur sie und die beiden Trauzeugen. Tobias’ Bruder und sein bester Freund. Sonst tauchte niemand auf, weil niemand verstehen konnte oder wollte, dass Tobias und Eva heirateten, gerade mal ein Jahr und drei Wochen nach Marlenes Tod, den Anstand soeben gewahrt. »Kann uns egal sein, was die anderen denken«, sagte Tobias. »Hauptsache, wir sind glücklich.« Sie stimmte ihm zu und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Dann sagte er »Ja«, und sie sagte »Ja« - und schon hatten sie aus einem leichten Mädchen eine ehrbare Ehefrau gemacht. Das Hochzeitsfoto von ihm und Marlene verschwand von seinem Schreibtisch im Büro und wurde durch das Bild von ihm und Eva ersetzt. Hauptsache glücklich, denkt sie jetzt. Um nichts anderes geht es doch im Leben. Ums Glücklichsein.
Eva nimmt einen weiteren großen Schluck von dem besonders guten Wein. Es ist bereits ihr zweites Glas, sie merkt, wie sie etwas schläfrig wird. So viel trinkt Eva normalerweise nicht. Nicht mehr, sie weiß, dass Alkohol die Tür zu ihren Abgründen aufstößt. Die muss verschlossen bleiben, musste immer fest verschlossen bleiben in den vergangenen Jahren, damit Eva nicht hindurchfällt,
durch das feine Gitternetz ihres neuen Lebens.
Jetzt ist es ihr egal, sie leert das nächste Glas. Tobias nimmt es erstaunt zur Kenntnis, ordert aber noch eine Flasche, denn »Schließlich ist heute dein Geburtstag!« Er stößt noch einmal mit ihr an, sie betrachtet ihn genau, studiert sein vertrautes Gesicht, sucht nach seinen Abgründen, seinen Untiefen. Aber da ist nichts. Nur ein lächelnder Mann, eine unbekümmerte Fratze.
Später am Abend: Sie betreten das Haus in der Brahmsallee, Evas Geist ist benommen vom edlen Tropfen. Tobias hilft ihr aus dem Mantel, die Knöpfe hat sie schon längst wieder angenäht. Er hängt ihn an die Garderobe neben dem Gästebad, zieht seinen eigenen Mantel aus und befördert ihn sorgfältig auf einen Kleiderbügel. Dann nimmt er Eva in den Arm, küsst sie, sagt: »Ich hoffe, der Abend hat dir gefallen.« Ihre Hand tastet zu der schlichten Kette mit Diamantanhänger, die er ihr beim Essen in einem kleinen, mit Samt ausgeschlagenen Kästchen überreicht hat. Sie fragt sich, wie die Kette wohl aussähe, wenn der Tätowierer sich nicht geweigert hätte, die Kreuze in ihren Hals zu stechen.
»Komm mit«, sagt Tobias, nimmt ihre immer noch kalte Hand, führt sie zur Treppe, die Stufen hinauf, direkt ins Schlafzimmer. Er lässt ihre Hand los, geht zur Kommode und
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