Allerliebste Schwester
ein Geheimnis erzählen, das kein Mensch außer mir kennt: Ich habe eine Zwillingsschwester.
»Tja«, nun lächelt er auch, »da war ich gerade im ersten Moment wohl etwas überrascht.« Er macht eine kurze Pause. »Dachte schon, ich würde einen Geist sehen oder hätte Halluzinationen. Marlene ist ja …« Er lässt den Satz in der Luft hängen.
»Tot«, beendet Eva ihn. Und denkt daran, wie sie selbst vor Kurzem ihre Schwester gesehen hat. An der U-Bahn-Station und unter der Brücke, eine Erscheinung,
die nichts von einem Geist oder einer Halluzination an sich hatte.
»Eigentlich«, spricht der Mann weiter, »hat Marlene immer betont, dass Sie beide total unterschiedlich seien. Wie hätte ich da ahnen können, dass …«
»Typisch Marlene«, unterbricht sie ihn, »es gefiel ihr nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Und Zwillinge … die meisten Menschen halten das für etwas Besonderes.«
»Hm«, er nickt. »Das ist wahr.« Bevor sie darauf etwas erwidern kann, klingelt das Telefon neben der Kasse. Eva nickt ihm kurz zu, einen »Augenblick bitte« andeutend, dann geht sie zum Tresen, dreht dem Fremden den Rücken zu und hebt den Hörer ab.
»Gabys Bücherstube?«
»Hallo Schatz, ich bin’s.« Tobias.
»Hallo.«
»Ich kann dich heute leider nicht abholen. Wir müssen für morgen noch eine Präsentation vorbereiten, da kann ich jetzt unmöglich weg.«
»Kein Problem.«
»Bestimmt nicht?« Sie lacht.
»Nein, ganz bestimmt nicht, ich bin doch kein Kleinkind!«
»Ich weiß nicht …«
»Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.« Schweigen. Dann spricht er wieder.
»Eva?«
»Ja?« Sie kann ihre Gereiztheit nur mit Mühe unterdrücken.
»Versprichst du mir, nach der Arbeit sofort und ohne
Umwege nach Hause zu gehen? Oder soll ich dir lieber ein Taxi schicken?«
»Das brauchst du nicht, ich schaffe das schon.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Gut. Ich liebe dich.«
Sie legt auf und holt leise tief Luft. Dreht sich wieder um. Der Fremde ist nicht mehr da. Eva hat nicht einmal die Türglocke gehört, so sehr hat der Anruf sie abgelenkt. Sie läuft hinaus auf die Straße, blickt nach links und nach rechts, kneift die Augen zusammen und hofft, irgendwo den blauen Colani-Mantel zu entdecken. Aber er bleibt verschwunden. Sie ärgert sich über den Anruf von Tobias. Und fragt sich, warum Marlenes Bekannter einfach so gegangen ist. Gern hätte sie noch länger mit diesem Mann gesprochen, der ihre Schwester kannte und der um die Geschichte vom Rosenbusch wusste.
Sie schiebt den Pulswärmer am rechten Handgelenk hoch, da, wo das schwarze Kreuz für alle Zeiten eingebrannt ist. Sie streicht darüber. »Ylva-Li«.
Gabriele kommt die Straße herunter, die blonden Haare wehen im Wind, in der Hand hat sie ein Brötchen.
»Willst du auch kurz raus zur Pause?«, fragt sie, noch kauend, als sie Eva erreicht.
»Nein«, sagt Eva. »Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen.«
»Einen Bekannten?«
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Doch«, verbessert sie sich dann.
»Wen denn?«
»Jonas.«
»Welchen Jonas?«
»Jonas Petter, der von Märit gerettet wird. Weil sie sich vor einen Felsbrocken wirft, der auf ihn zurollt.«
»Ich verstehe kein Wort!« Gabriele mustert sie verwundert. »Die Namen habe ich noch nie gehört! Und was denn für ein Felsbrocken?« Eva muss beinahe lachen, weil Gabriele so verdutzt aussieht.
»Das macht nichts«, erwidert sie, »es ist wirklich nicht so wichtig, und du musst es nicht verstehen.« Dann: »Ich gehe doch kurz raus und rauche eine Zigarette.«
»Aber du rauchst doch schon seit Jahren nicht mehr!«
»Doch. Jetzt rauche ich wieder.«
5
Sie feiern Evas zweiunddreißigsten Geburtstag. 8. Dezember. Mariä Empfängnis. Vor genau einem Jahr hat sie Lukas empfangen, das weiß sie ganz sicher. Tobias und sie machten damals noch Witze, weil Eva mal wieder ihren Eisprung ermittelt hatte und er auf exakt diesen Tag fiel.
»Wenn’s jetzt endlich klappt und es ein Mädchen wird«, sagte Tobias beim Frühstück, »müssen wir es Maria nennen.«
»Ich wäre eher für Marlene«, erwiderte sie, ohne lange nachzudenken. Und schon war dieser seltene Moment der Unbefangenheit zwischen ihnen vorbei, und die schwelende Grundspannung, die die meiste Zeit spürbar war, ergriff wieder von ihnen Besitz.
»Das ist ja wohl nicht dein Ernst.« Mehr sagte Tobias dazu nicht und rauschte in seine Firma davon. Nachmittags kehrte er mit einem Rosenstrauß zurück, entschuldigte sich bei
Weitere Kostenlose Bücher